»Ein Drittel der Wiener hat kein Wahlrecht«
Interview: Dieter Reinisch, WienAn diesem Sonntag wir in Österreich ein neuer Nationalrat gewählt. Allein in Wien hat nahezu ein Drittel aller Menschen im Wahlalter kein Wahlrecht. Wieso?
Die meisten Menschen, die vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind, leben in der Bundeshauptstadt Wien, weil es dort auch den größten Anteil migrantischer Personen an der Bevölkerung in absoluten und relativen Zahlen gibt. Wien hat zwei Millionen Einwohner. Wir haben uns die offiziellen Zahlen der Statistik Austria angesehen, und aus denen ist ersichtlich, dass in Wien 33 Prozent der Bevölkerung einen migrantischen Hintergrund haben oder im Ausland geboren wurden. 31 Prozent der Wiener haben kein Wahlrecht.
Wie ist die Lage in anderen österreichischen Bundesländern?
In anderen Bundesländern ist die Zahl niedriger, etwa in Tirol. Ein Bundesland, in dem die Situation vergleichbar mit jener in Wien ist und die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund und dadurch ohne Wahlrecht ebenso sehr hoch ist, ist das westlichste Bundesland Vorarlberg. Es war in der Vergangenheit industrialisiert und daher zogen viele Arbeitsmigranten dorthin.
ATIK hat im Wahlkampf eine Kampagne gestartet, um auf das Problem aufmerksam zu machen, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht im bürgerlich-demokratischen System repräsentiert wird.
Wir arbeiten vor allem in den Betrieben, in denen die werktätigen Schwestern und Brüder beschäftigt sind. Wir organisieren die migrantischen Kollegen auch in den Gewerkschaften.
Wir Migranten haben mehr Probleme als die sogenannten einheimischen Arbeiter. Wir versuchen uns innerhalb der Arbeiterklasse zu organisieren: gegen Rassismus, Faschismus und alles Reaktionäre. Wir fordern, dass in Österreich alle rassistischen, faschistischen und reaktionären Parteien verboten werden müssen – egal, ob österreichische oder ausländische Parteien.
Wie meinen Sie das?
Das Problem mit Wahlen ist jenes: Weil viele Migranten in Österreich, die aus der Türkei kommen, kein Wahlrecht hier haben, fühlen sie sich zu dem türkischen Staatschef Erdoğan hingezogen. Um das zu verhindern, ist es wichtig, den Menschen ein aktives und passives Wahlrecht zu geben, damit sie sich einbringen, hier ihre politischen Vertreter wählen können und sich nicht der Politik in der Türkei anpassen.
Was sind Ihre Forderungen?
Unsere Forderung ist ein aktives und passives Wahlrecht von den Kommunen über die Bundesländer bis hin zur nationalen Ebene ab dem dritten Jahr, in dem eine Person in Österreich lebt.
In Ihrer aktuellen Kampagne gehen die Forderungen über das Wahlrecht hinaus.
Wir versuchen auf andere Probleme, die vor allem Migranten, aber nicht nur diese, betreffen, aufmerksam zu machen und den Kampf dagegen zu organisieren. Da geht es sehr stark um Armut. In Österreich sind 1,7 Millionen Menschen von Armut betroffen, überwiegend Kinder und alleinerziehende Frauen. Daher fordern wir einen Mindestlohn von 2.800 Euro netto pro Monat, um die Armut zu bekämpfen. In Innsbruck beispielsweise kostet eine Zweizimmerwohnung 1.400 Euro.
Es muss klare Gesetze geben zur Gleichstellung von Migranten und von Frauen. Das würde auch dazu dienen, dass die Gewalt gegen Frauen bekämpft wird. Doch dazu braucht es gesetzliche Regelungen für gleiche Entlohnung von Männern und Frauen und gleiche Repräsentation in Gemeinderäten und anderen politischen Institutionen. Weil das nicht der Fall ist, sind Frauen in der Gesellschaft enorm benachteiligt – vor allem politisch und ökonomisch – und so fordern wir auch mehr Gewaltpräventionszentren. Um die Gewalt zwischen den Geschlechtern einzudämmen, fordern wir auch Schulungen für Männer.
Wie reagieren die Parteien auf Ihre Forderung nach Wahlrecht?
Die Parteien reagieren negativ darauf. Wir hatten Gespräche mit der SPÖ in Wien, und sie meinten, sie hätten es probiert, aber der Verfassungsgerichtshof hätte dies wieder aufgehoben.
Die KPÖ ist unseren Forderungen eher positiv eingestellt und meint, dass sie damit kein Problem habe, weil sie eine kleine Partei ist. Wir haben Gespräche mit SPÖ, ÖVP und den liberalen Neos geführt, aber gerade die letzten beiden sind bei der Migranten- und Flüchtlingsfrage eher negativ eingestellt.
Osman Ezmen ist der Sprecher des ATIK-Komitees (Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa) in Österreich
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (28. September 2024 um 11:07 Uhr)Demokratie auf Diät Das Wahlrecht – was für ein schönes Ideal! In der Theorie dürfen alle mitbestimmen, alle sind gleich, und jede Stimme zählt. Theoretisch. Praktisch jedoch scheint die Demokratie in Städten wie Berlin, London oder Marseille auf strikte Diät gesetzt zu sein – denn dort sieht es nicht viel anders aus, als in Wien. Kein Problem, das hält die Westdemokratie schon aus! Wer braucht schon Wahlrecht, wenn man auch einfach zusehen kann? Wozu sollte jemand, der hier lebt, arbeitet, Steuern zahlt und vielleicht eine Familie gegründet hat, auch noch über das eigene Leben mitbestimmen dürfen? Das wäre ja fast schon übertrieben demokratisch! Man stelle sich vor, Migranten könnten tatsächlich ihre politischen Vertreter wählen, anstatt nur die Statistenrolle auf der politischen Bühne zu übernehmen. Wie können sie es bloß wagen, an einer besseren Zukunft zu arbeiten, wenn die Botschaft doch so klar lautet: »Das hier ist nicht für euch!«? Demokratie als Fast Food – für manche nur zum Anschauen, nicht zum Mitmachen. Aber immerhin bleibt ihnen die nächste große Alibidebatte zur Integration. Zuhören, klatschen und zusehen – das ist schließlich auch eine Form der Teilhabe, oder?
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