Beispielloser Rückzug
Von Wolfram AdolphiBei dem vorliegenden Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags, den Wolfram Adolphi am 10. September 2024 auf einer Veranstaltung des Arbeitskreises 8. Mai im Bundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften e. V. in Berlin gehalten hat. (jW)
Bertolt Brecht schrieb zum Jahreswechsel 1934/35 im von den deutschen Faschisten erzwungenen Exil in »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«: »Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden.«¹
Volker Braun notierte am 27. August 1994 in sein Arbeitsbuch: »die gesonderte verabschiedung der russischen streitkräfte war eine stille kriegserklärung an rußland. die westalliierten, die im 2. weltkrieg zögernd die zweite front eröffnet hatten, sind im 3. auf deutscher seite.«²
Der Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland zwischen 1991 und 1994 war ein weltpolitisches und weltgeschichtliches Ereignis ersten Ranges. Seine Würdigung kann daher nur gelingen, wenn wir den Bogen zurück spannen bis zum Zweiten Weltkrieg; und da wir diese Würdigung mit dem zeitlichen Abstand von 30 Jahren vornehmen, muss ebenso selbstverständlich die in diesen 30 Jahren von den verschiedenen beteiligten Seiten geübte politische und militärische Praxis in den Blick genommen werden.
Wie sehr eine solche Übung von Weltanschauung und Geschichtsbetrachtungsmethode abhängt, findet sich trefflich in folgendem aktuellen Beispiel: Am 6. September 2024 resümierte der scheidende Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ramelow (Die Linke), in seinem öffentlichen »Tagebuch« auf bodo-ramelow.de³ den für ihn und seine Partei dramatisch negativen Ausgang der Landtagswahlen fünf Tage zuvor, blickte auf seine zehnjährige Amtszeit zurück und fügte eine Anmerkung zur historischen Bedeutung des 1. September hinzu: »Am gleichen Tag im Jahr 1939 überfiel das sogenannte Dritte Reich Polen, 16 Tage später rückte die Sowjetunion ebenfalls in das westliche Nachbarland ein. Zwei Diktaturen bildeten eine Beutegemeinschaft, zerschlugen den polnischen Staat unter unvorstellbaren menschlichen Opfern und stürzten ganz Europa in den Abgrund.« – Deutschland und die Sowjetunion in eins gesetzt. Von einem (west)deutschen Politiker der Linken. – Von da der Sprung direkt ins Heute: »Daran sollte jeder denken, der von gerechtem Frieden redet.« – Woran? An Deutschland? An die Sowjetunion? – Und weiter: »Meine Antwort: eine europäische Friedensordnung und eine weitere Ausgestaltung des ›Weimarer Dreiecks‹.« – Das ist die Idee von einem »Kerneuropa« aus Frankreich, Deutschland und Polen; Russland ausgeklammert.
Lassen wir das so stehen und kommen zu den Gründen des Truppenabzugs, denen selbstverständlich die Gründe für die fast 50 Jahre dauernde Anwesenheit der sowjetischen Truppen in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR noch einmal vorangestellt werden müssen.
Gründe
Am 22. Juni 1941 überfiel das faschistische Deutschland mit dreieinhalb Millionen Soldaten in 121 Divisionen auf einer Frontlänge von 2.130 Kilometern die Sowjetunion und führte bis 1945 einen Krieg, der – ich zitiere im folgenden ganz bewusst aus der aktuellen Fassung des Onlineartikels »Deutsch-Sowjetischer Krieg« in der deutschsprachigen Wikipedia – »wegen seiner verbrecherischen Ziele, Kriegführung und Ergebnisse allgemein als der ›ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt‹« gilt.⁴ Einige Sätze zuvor ist an gleicher Stelle zu lesen: »Um für die ›arische Herrenrasse‹ ›Lebensraum im Osten‹ zu erobern und den ›jüdischen Bolschewismus‹ zu vernichten, sollten große Teile der sowjetischen Bevölkerung vertrieben, versklavt und getötet werden. Das NS-Regime nahm den millionenfachen Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten bewusst in Kauf, ließ sowjetische Offiziere und Kommissare auf der Basis völkerrechtswidriger Befehle ermorden und nutzte diesen Krieg zur damals so bezeichneten ›Endlösung der Judenfrage‹.«⁵
Die sowjetischen Streitkräfte waren in Deutschland, weil sie ihr Heimatland und weitere große Teile Europas von den deutschen Faschisten befreit und nun eine große Aufgabe zu erfüllen hatten: zu garantieren, dass es zu einer Wiederholung eines solchen Krieges niemals kommen würde.
Die Gründe für die Präsenz der sowjetischen Truppen trafen sich im übrigen – auch das muss immer wieder gesagt werden – mit den Gründen der anderen Alliierten. Die Sowjetunion war Teil der Antihitlerkoalition, ihre Anwesenheit in Deutschland mit den westlichen Alliierten ausgehandelt.
Ausgangspunkt des Abzugs der Truppen war die schon unter Juri Andropow, dann aber – seit 1985 – vor allem unter Michail Gorbatschow gewachsene Einsicht der sowjetischen Führung, dass der von der Sowjetunion geschaffene Block osteuropäischer sozialistischer Länder im Wettlauf mit dem von den USA geführten »Westen« weder wirtschaftlich noch militärisch würde standhalten können. Zu groß waren die wirtschaftlichen Probleme geworden, zu deutlich zeigte sich, dass die nächste Etappe der wissenschaftlich-technischen Revolution – die Digitalisierung – im Ostblock unter den Bedingungen der Blockkonfrontation nicht gemeistert werden könnte, zu sehr bröckelte der Rückhalt der Parteiführungen und Regierungen in der Bevölkerung, zu groß wurden die Widersprüche zwischen den einzelnen Ländern des Warschauer Vertrages.
Die Geschwindigkeit, mit der Gorbatschow daraus den Schluss zog, die 40 Jahre andauernde Konfrontation mit der NATO durch einen beispiellosen Rückzug in Form der Selbstauflösung des Warschauer Vertrages und der damit verbundenen Rücknahme aller Truppen auf sowjetisches Territorium zu beenden, ist wohl nur mit den Hoffnungen zu erklären, die ihre Nahrung in einer gleichfalls beispiellosen Situation im Westen fanden.
Hoffnungen
Die Sehnsucht nach einer Überwindung der Blockkonfrontation hatte seit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in den 1970er Jahren – speziell seit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 – einen starken Aufschwung erfahren. Zugleich hatte die Stationierung von mit Atomsprengköpfen ausgerüsteten Mittelstreckenraketen der USA in Westdeutschland und anderen Ländern Westeuropas sowie der Sowjetunion in der DDR und anderen Ländern Osteuropas allen die Gefahr einer militärischen Eskalation vor Augen geführt. Um ihr entgegenzutreten, gingen in der BRD Anfang der 1980er Jahre Hunderttausende auf die Straße. Vor diesem Hintergrund stieß Gorbatschow daher in den Bevölkerungen in Ost und West gleichermaßen auf Zustimmung, die durch positive Reaktionen führender Politikerinnen und Politiker weiter verstärkt wurde. Willy Brandt ist da zu nennen.⁶ Oder auch die mehrmalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, die auf dem Jahrestreffen des »Weltwirtschaftsforums« in Davos im Januar 1989 forderte, aus der Perestroika in der Sowjetunion eine »Perestroika für die Welt« zu machen.⁷
Hinzu kam das geschickt inszenierte Wohlwollen des von den USA dominierten westlichen Machtblocks. Das war selbstverständlich geheuchelt. Getragen von der Interpretation der Vorgänge als Triumph der eigenen Politik, wurde es vorgetragen mit vorher unbekannter Freundlichkeit und Konzilianz. Dabei hatte dieser Machtblock mit dem Machtantritt Ronald Reagans 1980 einen Kurswechsel vollzogen: Die entspannungsorientierten »Tauben« waren von konfrontationsbereiten »Falken« abgelöst worden. Reagan hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit erklärt, dass »der Kommunismus auf den ›Aschehaufen der Geschichte‹« gehöre. Gorbatschow ließ sich davon in seinem Kurs nicht beirren, und der öffentlich sichtbare vertrauensvolle, ja fast freundschaftliche Ton zwischen Moskau und Washington und die Souveränität, mit der Gorbatschow in freier Rede seine Gedanken von einem »Gemeinsamen Haus Europa« und einer weltweiten Sicherheitsarchitektur entwickelte, täuschten Einverständnis vor.
Auch die Bonner Bundesregierung signalisierte Wohlwollen, verhieß der Gorbatschow-Kurs doch die Chance, ein »Ende der Teilung Deutschlands« zu erreichen. Diese Chance speiste sich für die BRD auch aus der Erfahrung, dass die sowjetische Führung seit Mitte der 1980er Jahre alle entscheidenden »Deutschland-Fragen« nur noch mit ihr verhandelte und nicht mehr mit der DDR, die Existenz der DDR also seitens der Sowjetunion durchaus zur Debatte stand.
Im offensichtlichen Vertrauen darauf, dass all dieses Wohlwollen in einen ernsthaften Umgang mit den Interessen der Sowjetunion münden würde, unterlag Gorbatschow gleich einer ganzen Reihe von Irrtümern.
Irrtümer
Erstens. Alle internationalen Vereinbarungen, die die Sowjetunion bis dahin geschlossen hatte, basierten auf einer militärischen und politischen Stärke, die den »Westen« in der Wahrnehmung seiner systemimmanenten Expansions- und Machtinteressen einschränkte. Es war ein Irrtum anzunehmen, die Sowjetunion bleibe auch ohne diese militärische Stärke ein vom »Westen« ernstgenommener Widerpart und Partner.
Zweitens. Die Begeisterung, die Gorbatschow seitens der Bevölkerungen entgegenschlug, brachte ihn offensichtlich zu der Ansicht, dass er auf eine kollektive Beratung seines Kurses verzichten könne. Mit Bezug auf die DDR, für die der Gesamtprozess natürlich die gravierendsten Auswirkungen hatte, weil es bei ihr buchstäblich um Sein oder Nichtsein ging, ist das besonders augenscheinlich. Erich Honecker erschien einem großen Teil der DDR-Bevölkerung im Vergleich mit Gorbatschow als halsstarriger Repräsentant des längst Vergangenen, und so überging Gorbatschow ihn in seinen Entscheidungen einfach. Der Irrtum aber war, dass er selbst vor Demütigung und Zurückweisung geschützt sein würde. Das traf nicht ein. Honecker stürzte zuerst, Gorbatschow nur knapp zwei Jahre später.
Drittens. So wenig wie der Kurs der Selbstaufgabe im Warschauer Vertrag kollektiv beraten worden ist, so wenig war er das Resultat gründlicher kollektiver Arbeit in der Sowjetunion. Für eine kurze Zeit nach dem XXVII. Parteitag der KPdSU im Juli 1990 mochte es scheinen, dass die Partei in der Lage sein würde, ein den komplexen Herausforderungen angemessenes Reformprogramm zu erarbeiten und damit den weltpolitischen Entscheidungen Basis und Rückhalt zu geben. Das aber erwies sich als eine Illusion.
Es ist – so lässt sich wohl zusammenfassen – Gorbatschows historische Tragik, dass er mit seinem Schritt der ohne einen einzigen Schuss realisierten Zurücknahme der sowjetischen Militärmacht einerseits ein Fenster zur Rettung des Weltfriedens öffnete, andererseits aber mit seinem jeder realistischen Grundlage entbehrenden Vertrauen in den westlichen Macht- und Militärblock alle Instrumente künftiger Einflussnahme auf das Weltgeschehen aus der Hand gab.
Irrtümer gab es jedoch auch im Westen. Sie bestanden vor allem in der seltsamen Gewissheit, dass die Schwächung Russlands »ewig« sein würde und auf Gorbatschow und dessen Nachfolger Boris Jelzin nur immer weitere sich dem »Westen« unterwerfende Führungskräfte folgen würden. Das war eine gewaltige Unterschätzung des geopolitischen Gewichts Russlands in Vergangenheit und Gegenwart, der Stärke des militärisch-industriellen Komplexes des Landes, der Bedeutung des Großmachtgefühls in der russischen Gesellschaft und der Bereitschaft und Fähigkeit, sich der eigenen geopolitischen Interessen wieder zu besinnen und zu ihrer Sicherung auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken.
Es kann nicht oft genug betont werden: Russland sieht sich in geopolitischer Interessenkontinuität mit der Sowjetunion, nimmt für sich als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs die gleichen Rechte in Anspruch wie die anderen Siegermächte, insbesondere die USA. Welchen Grund auch sollte es dafür geben, dies nicht zu tun? Die Tatsache etwa, dass das alles der Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht gefällt?
Russland will der »Früchte des Sieges« über das faschistische Deutschland nicht beraubt werden, und es hat zudem den Anspruch, auch einen weltpolitischen und nationalen Gewinn aus seiner beispiellosen Rückzugsaktion Anfang der 1990er Jahre zu ziehen. Ihm dies zu versagen, geht nur unter der Voraussetzung der Ablehnung der Universalität völkerrechtlicher Prinzipen und Praxen. Das wird im deutschen Mainstream besonders deutlich: Von einer Gleichbehandlung der beiden Siegermächte USA und Sowjetunion/Russland kann nirgends die Rede sein. Das heißt aber im Klartext: Die im Zweiten Weltkrieg besiegte Macht – Deutschland – entscheidet über den Umgang mit den Siegern, wählt den »richtigen« Sieger aus, identifiziert sich mit dessen Interessen und spricht dem »falschen« alle eigenen Interessen ab.
Damit sind wir bei den Wirkungen des Truppenabzugs, der offiziell am 31. August 1994 endete. Er fiel in die Zeit eines großen Macht- und Vertragsvakuums in Europa, und in seiner Realisierung verfestigte er die Schwächung Russlands rasant.
Wirkungen
Als ein fortwirkendes Grundübel zeigte sich das Desinteresse der westlichen Sieger, die europäische Sicherheitsstruktur nach der Zeitenwende – denn die Selbstauflösung des Ostblocks und die damit vollzogene Beendigung der Ost-West-Blockkonfrontation war die wirkliche Zeitenwende – in einer dem Ereignis würdigen Weise fortzuschreiben. Die KSZE-Schlussakte von 1975 enthielt alles, was eine kollektive Friedenssicherung ausmacht. Sie basierte auf dem Konzept der friedlichen Koexistenz; dieses wiederum hatte die gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Interessenlagen zum Grundsatz. Die Idee Gorbatschows vom »Gemeinsamen Haus Europa« hätte die Basis für eine neue KSZE sein können.
Statt aber eine solche überhaupt nur in Erwägung zu ziehen – was übrigens auch eine öffentliche Debatte der Bevölkerungen über das veränderte Europa hätte in Gang setzen können, mit der man sich überhaupt erst einmal der Tiefe der Veränderungen in allen Bereichen des Lebens bewusst werden konnte –, traf man übereilt und jenseits der Öffentlichkeit verschiedene kleine Vereinbarungen, von denen man annahm, sie würden ausreichen, dem veränderten Europa gerecht zu werden.
Aber sie reichten nicht aus. Jugoslawien versank in verschiedenen Bürgerkriegen; die Sowjetunion zerfiel; die nichtrussischen Sowjetrepubliken trennten sich mehr oder weniger entschieden von Russland ab; die Staaten des ehemaligen Ostblocks suchten sich ihren je eigenen Weg. Mit großer Wucht brachen uralte Nationalitätenkonflikte wieder hervor.
Die USA agierten als »Weltsieger«, die für alle anderen Interessenlagen nur Missachtung übrig hatten. Auf den sowjetischen Generalrückzug antworteten sie im Januar 1991 mit dem Irak-Krieg, auf den Zerfall Jugoslawiens mit der spalterischen Unterstützung einzelner, nun selbständig werdender Teilstaaten gegen Serbien, auf den Zerfall der Sowjetunion mit der spalterischen Unterstützung gegen Russland. Die aktive Teilnahme der NATO am Kosovokrieg 1999 markierte nachdrücklich die Bereitschaft zur Eskalation der ungelösten Konflikte.
Russland vermochte all dem nichts entgegenzusetzen. Diejenigen, die den Abschied der Streitkräfte aus Deutschland separat und von den westlichen Alliierten getrennt geplant hatten, wussten genau, was sie taten. Ihr Handeln brachte die in der Weltpolitik vor sich gehende Demütigung Russlands auf den Punkt.
Es konnte nicht überraschen, dass der russische Machtblock nach Jelzin einen völlig anderen Politikertyp an die Spitze schob. Wladimir Putin war in der Lage, den fortlebenden russischen Interessen wieder weltpolitisches Gewicht zu verleihen. Der »Westen« ist steter Zeuge seines Aufstiegs gewesen, hat die Ansprüche Putins vernommen und auch seine Angebote zur Zusammenarbeit, und er hat ihm dabei viele Jahre lang den roten Teppich ausgerollt. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Der Abzug der Truppen war wie das ganze Verschwinden der DDR für die allermeisten Menschen in Westdeutschland nie ein Problem. Es verschwand etwas, das ihnen völlig fremd war. Sie waren gewöhnt, vom Überfall auf die Sowjetunion genau wie die Nazis selbst als vom »Russland-Feldzug« zu sprechen, waren froh, es mit ihren westlichen Besatzungsmächten »gut getroffen« zu haben, und nun zogen sie eben ab, »die Russen« – und es scherte die Westdeutschen überhaupt nicht, wie viele dieser »Russen« bis 1991 auch Ukrainer, Armenier, Georgier usw. waren.
Und fremd war ihnen auch, darüber nachzudenken, dass es ihren ostdeutschen Landsleuten eben nicht fremd war. Dass die fast 50 Jahre Besatzung selbstverständlich tiefe Spuren hinterlassen hatten – und zwar in jeglicher, hier unmöglich im Detail beschreibbarer Art und Vielfalt. Die Truppen waren nicht wegzudenkender Bestandteil eines Systems umfangreicher bilateraler Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR, und selbstverständlich ist es so, dass es die DDR ohne die Stationierung dieser sowjetischen Truppen nicht gegeben hätte.
Diese Grundwahrheit sei hier noch einmal in aller Deutlichkeit ausgeführt: Die DDR war nicht das Resultat einer Revolution in Deutschland, sondern das Resultat des Sieges der Sowjetunion in einem von Deutschland vom Zaune gebrochenen Weltkrieg und der sich daraus für sie ergebenden Ansprüche. Man kann selbstverständlich der Meinung sein, dass am 17. Juni 1953 die DDR-Führung hätte zurücktreten und die DDR dem »Westen« zugeschlagen werden müssen, aber wer das meint, kann nicht sagen, warum die Sowjetunion einseitig ihre Besatzungszone hätte aufgeben und ihre Soldaten zurückziehen sollen, und das gleiche gilt für den 13. August 1961. Natürlich ging es immer um die Interessen der Siegermacht Sowjetunion, und die maßen sich an denen der anderen drei Besatzungsmächte, aber zusätzlich – und für die Deutschen überaus gewichtig – verbanden sie sich eben auch mit den gesellschaftlichen Plänen und Vorhaben deutscher Antifaschisten, Sozialisten, Kommunisten, Christen, die es ernst meinten nicht nur mit der Überwindung des Faschismus in den Köpfen, sondern eben auch damit, dem Faschismus seine ökonomische Basis zu entziehen, will sagen: das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu beenden.
Aber eben nur im Osten. Darum war der Truppenabzug für die Westdeutschen ebenso wie das Verschwinden der DDR die Herstellung eines immer schon gewollten »Normalzustandes«. Bei dem nicht störte, dass die Siegermacht USA auch weiterhin militärisch in der Bundesrepublik präsent blieb, und das sogar mit Atomwaffen.
Wie sehr die kurzlebige DDR-Regierung der Monate April bis September 1990 sich die Auffassung zu eigen gemacht hatte, dass mit dem Verschwinden ihres Landes auch die Interessen der Sowjetunion zu verschwinden hätten, zeigt sich in den Memoiren des seinerzeitigen Regierungssprechers Matthias Gehler. Der erinnert sich in seinem jüngst erschienenen Buch »Wollen Sie die Einheit – oder nicht?« des Staatsbesuches von Ministerpräsident Lothar de Maizière in der Sowjetunion Ende April 1990.⁸ Außenminister Eduard Schewardnadse habe »klargestellt«, »dass ein Verbleib (…) Deutschlands in der NATO inakzeptabel sei«, DDR-Außenminister Markus Meckel versucht daraufhin, »der sowjetischen Seite zu vermitteln, (…) dass es auf Grund der Erfahrungen mit der deutschen Geschichte auf keinen Fall ein neutrales, blockfreies Deutschland geben dürfe«, Gorbatschow schließlich »seine Bedingungen für die deutsche Einheit (diktiert): kein Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes und keine NATO-Mitgliedschaft«. Dem habe de Maizière »verärgert« entgegengehalten, dass er sich »wie ein Befehlsempfänger behandelt« fühle. Er sei »frei gewählt worden und wisse etwa 70 Prozent der Volkskammerabgeordneten hinter sich. Gorbatschow könne weder das eine noch das andere von sich behaupten«.
Und was sagt Gehler über die sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und deren Abzug bis 1994? Die seien »durchweg offensiv bewaffnet« gewesen; der »Krieg sollte auf das Territorium des Gegners getragen werden«. Kein Wort der Würdigung hat Gehler für die sowjetischen respektive russischen Soldaten und Offiziere übrig. Keine Reflexion über die große Konfrontation im Kalten Krieg und ihre friedliche Beilegung kommt ihm in den Sinn. Alles ist Dünkel, alles »Befreiung«.
Dann präsentiert Gehler noch »einen aktuellen Zusammenhang«: Unter den im Rahmen des Truppenabzugs errichteten »Soldatensiedlungen« in Russland sei »beispielsweise Bogutschar« gewesen. Die Kleinstadt in der Oblast Woronesch an der ukrainischen Grenze sei »mit deutschem Geld zur Garnison ausgebaut« worden und »heute unmittelbares Hinterland im Krieg gegen die Ukraine«.
So spiegelt sich der Geist der 1990 vollzogenen Selbstabtrennung nicht nur von der Außenpolitik der DDR bis zum Oktober 1989, sondern auch von aller historischen deutschen Verantwortung für die Gestaltung friedlicher, die Interessen der Sowjetunion bzw. Russlands ernst nehmender bilateraler Beziehungen. Bundeskanzler Olaf Scholz’ »Zeitenwende« lässt grüßen.
Im kommenden Jahr steht der 80. Jahrestag des Sieges der Antihitlerkoalition über den deutschen Faschismus ins Haus. Zwei Länder, die 1941 vom deutschen Aggressionsheer überrollt und unterschiedslos der Vernichtung slawischen Lebens und slawischer Kultur und der in ihren Bevölkerungen beheimateten jüdischen Lebens und jüdischer Kultur preisgegeben wurden, stehen im Krieg miteinander – einem Krieg, in dem sich neue geopolitische Verteilungskämpfe spiegeln. Der Kampf um die Deutung der Geschichte ist von diesem Krieg nicht zu trennen und wird in eine neue Phase treten.
Die Gefahr, dass Volker Brauns düstere Prognose aus dem Jahre 1994 Realität wird, ist riesengroß.
Anmerkungen
1 Bertolt Brecht: Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin/Frankfurt am Main 1993, Bd. 22.1, S. 88–89
2 Volker Braun: Werktage 2. Arbeitsbuch 1990–2008, Berlin 2014, S. 282
3 Bodo Ramelow: »Thüringen hat gewählt!«, bodo-ramelow.de, 6. September 2024, online: bodo-ramelow.de/2024/09/thueringen-hat-gewaehlt, zuletzt aufgerufen am 27. September 2024
4 Das mit Stand 27. September 2024 eingebettete Zitat stammt aus Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus, München 1963, S. 436
5 Hierbei wird mit Stand 27. September 2024 auf eine Veröffentlichung von Hannes Heer, Christian Streit, Frank Heidenreich und Lothar Wentzel verwiesen. Siehe Hannes Heer, Christian Streit: Vernichtungskrieg im Osten. Judenmord, Kriegsgefangene und Hungerpolitik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Frank Heidenreich und Lothar Wentzel, Hamburg 2020
6 Siehe beispielsweise Willy Brandt: Chancen und Aufgaben internationaler Zusammenarbeit, in: Andreas Giger (Hg.): Eine Welt für alle. Visionen von globalem Bewusstsein, Rosenheim 1990, S. 122–127
7 Siehe Gro Harlem Brundtland: Die globale Perestroika. Schwerpunkte für die neunziger Jahre, in: Andreas Giger (Hg.): Eine Welt für alle. Visionen von globalem Bewusstsein, Rosenheim 1990, S. 128–140
8 Sämtliche ab hier zitierten Aussagen stammen aus Matthias Gehler: »Wollen Sie die Einheit – oder nicht?« Erinnerungen des Regierungssprechers, Berlin 2024, S. 115–117, 121
Wolfram Adolphi ist Politikwissenschaftler und Schriftsteller und lebt in Potsdam.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (30. September 2024 um 12:19 Uhr)Die Sowjetunion hatte zu jener Zeit nicht mehr Schulden als die USA heute, doch ihr entscheidender Nachteil war, dass der US-Dollar als Weltwährung fungierte, während die sowjetische Wirtschaft nicht auf eine vergleichbare globale Währung bauen konnte. Gorbatschows beispiellose politische Naivität, gepaart mit einer fehlenden strategischen Absicherung der Reformen, führte letztlich zum Implodieren der Sowjetunion. Doch es ist wichtig zu erkennen, dass große Weltmächte oft von innen heraus implodieren, während die äußeren geopolitischen Umstände eine entscheidende Rolle dabei spielen. Ähnlich beobachten wir heute den schrittweisen Niedergang des »Wertewestens«, ausgelöst durch die Globalisierung und die damit verbundene Machtverschiebung zugunsten des »Nichtwestens«, der zunehmend seine Position stärkt und sich neu definiert.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (30. September 2024 um 11:14 Uhr)»Gorbatschow unterlag gleich einer ganzen Reihe von Irrtümern«, schreibt Wolfram Adolphi. Dem aufmerksamen Leser fallen jedoch die Irrtümer des Autors auf: Erstens. »Ausgangspunkt des Abzugs der Truppen war die schon unter Juri Andropow, dann aber – seit 1985 – vor allem unter Michail Gorbatschow gewachsene Einsicht der sowjetischen Führung, dass der von der Sowjetunion geschaffene Block osteuropäischer sozialistischer Länder im Wettlauf mit dem von den USA geführten ›Westen‹ weder wirtschaftlich noch militärisch würde standhalten können.« Der von der »Sowjetunion geschaffene Block«, den die NATO über drei Jahrzehnte nicht anzutasten wagte, sollte plötzlich wirtschaftlich und militärisch unterlegen sein? Zweitens. Die Zerstörung der Sowjetunion war ein bewusster Plan und nicht das Resultat von Irrtümern. Gorbatschow auf einem Vortrag in Ankara im Oktober 1999: »Mein Lebensziel war die Zerschlagung des Kommunismus.« Dazu Egon Krenz, der »Gorbi« lange Zeit nicht durchschaut hatte: »Da ich diese Aussage für unglaublich hielt, fragte ich schriftlich bei ihm an, ob das Zitat korrekt sei. Eine Antwort erhielt ich nicht. Da gilt wohl die alte Weisheit: Keine Antwort ist auch eine Antwort« (nd-aktuell.de, 27.12.2021). Drittens. »Die aktive Teilnahme der NATO am Kosovokrieg 1999 markierte nachdrücklich die Bereitschaft zur Eskalation der ungelösten Konflikte.« Die »aktive Teilnahme« bzw. die Zerschlagung Jugoslawiens begann schon Anfang der 1990er Jahre durch den NATO-Staat BRD. Durch die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch den deutschen Außenminister Genscher im Dezember 1991 wurden die Separatisten kräftig gefördert und ermuntert. Seltsam auch diese Einschätzung: »Man kann selbstverständlich der Meinung sein, dass am 17. Juni 1953 die DDR-Führung hätte zurücktreten und die DDR dem ›Westen‹ zugeschlagen werden müssen (…) und das gleiche gilt für den 13. August 1961.« Welcher Leserschaft wird hier nach dem Mund geredet?
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Leserbrief von W Engel aus Hamm (2. Oktober 2024 um 00:32 Uhr)Sicher war in den 1980ern der Osten dem Westen unterlegen, warum hätte der Westen aber deshalb einen Krieg oder was auch immer beginnen sollen? Es mag für Putin und einige linke befremdlich sein, aber nicht jeder beginnt einen Krieg gegen seine schwächeren Nachbarn.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (29. September 2024 um 18:25 Uhr)Aus der Sicht des Jahres 2024, in dem die Gefahr eines atomaren Weltkrieges so groß geworden ist wie nie zuvor, liest es sich ziemlich befremdlich, dass »es Gorbatschows historische Tragik (ist), dass er mit seinem Schritt der ohne einen einzigen Schuss realisierten einseitigen Zurücknahme der sowjetischen Militärmacht einerseits ein Fenster zur Rettung des Weltfriedens öffnete, andererseits … alle Instrumente künftiger Einflussnahme auf das Weltgeschehen aus der Hand gab.« Es war keine tragische Fehleinschätzung einer Lappalie, die Gorbatschow da unterlaufen ist. Es war das Friedensinteresse der Völker dieser Erde, mit dem er da va banque spielte. Sage niemand, er habe nicht wissen können, was ein entfesselter Kapitalismus ohne Gegenmacht auf dieser Erde anstellen kann. So naiv kann noch nicht einmal Gorbatschow gewesen sein, hatte er doch jahrzehntelang Zeit, über die Notwendigkeit des Friedenskampfes der Sowjetunion nachzudenken und sie mit zu formen. Er hat, das muss man ganz deutlich sagen, die Welt »gerettet«, indem er sie sehenden Auges einer Situation ausgeliefert hat, in der ihr der Untergang in weit größerem Maße droht als damals. Das war keine Tragik, das war ein Verbrechen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (28. September 2024 um 08:01 Uhr)Rückzug? Das war wohl eher eine Flucht aus der Verantwortung! Einer der vielen Fehler, Irrtümer und Naivitäten, die sich die sowjetische Führung unter Leitung eines gewissen Gorbatschow geleistet hat. Sie haben sich aus dem Staub gemacht und haben die DDR-Bürger und die Bürger der ehemals verbündeten Staaten den westlichen Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Und das, für nichts, noch nicht einmal an die eigenen Sicherheitsinteressen hat man gedacht, denn man hätte ja ohne weiteres den eigenen Abzug mit dem Abzug anderer Besatzungsmächte in der BRD zur Bedingung machen können. Und man hätte einen völkerrechtsgültigen Vertrag über den Ausschluss einer Nato-Osterweiterung zur weiteren Bedingung machen können. All das hat man unter Führung eines gewissen Gorbatschow unterlassen. Schwer zu glauben, dies alles nur mit Naivität und Gutglauben erklären zu können. Alles, was sich danach in Europa und im Nachfolgestaat Russland ereignet hat, bis hin zum Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland heute, sind auf die Fehlentscheidungen der letzten sowjetischen Führung zurückzuführen.
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