»Vielleicht das größte Massaker der Menschheitsgeschichte«
Interview: Fritz und Frank SchumannIn China leben 1,4 Milliarden Menschen, die meisten können lesen – vor 75 Jahren, als die Volksrepublik gegründet wurden, waren achtzig Prozent der Bevölkerung noch Analphabeten … Was für ein riesiger Büchermarkt.
Lassen Sie sich nicht von den Zahlen verführen. Die meisten Chinesen schauen lieber auf ihr Handy. Bücher sind ein Nischenprodukt.
Und trotzdem übertragen Sie Bücher aus dem Deutschen in Mandarin, der Muttersprache von siebzig Prozent der Han-Chinesen. Wie groß ist der Markt für deutsche Literatur?
Nicht sehr groß. Im Deutschen würde man sagen: sehr überschaubar. Es dominiert zudem die Fachliteratur. Belletristik und Sachbücher, wie etwa John Rabes Tagebücher, füllen de facto eine Nische in der Nische.
Auf diese Tagebücher kommen wir noch. Wie wir inzwischen in China gesehen haben, ist man überall sehr marktorientiert. Insofern ist das, was Sie machen, augenscheinlich gegen den Trend.
Das stimmt: Ich machte mein Hobby zum Beruf. Aber leben kann ich davon nicht. Ich habe mein eigenes Unternehmen. Wir betreuen etwa zwei Dutzend mittelständische Unternehmen aus Deutschland.
Was heißt das?
Nun, wir helfen ihnen, in China Fuß zu fassen. Das reicht vom Dolmetschen bis zum Vermitteln wirtschaftlicher Kontakte, von Behördengängen bis zur Wohnungssuche.
Und das läuft?
Vor der Pandemie lief es besser.
Liegt der Rückgang nur an Corona?
Man sagt so. Ich glaube jedoch, dass es mit dem Einbruch der Weltwirtschaft insgesamt und dem politischen Kurswechsel des Westens in bezug auf China zusammenhängt, was man bei Ihnen »Decoupling« und »Derisking« nennt.
Auf der anderen Seite sagen seriöse Wirtschaftsexperten und Unternehmer in der EU, dass ein Abkoppeln von China den gleichen Bumerangeffekt haben dürfte wie die Sanktionen gegen Russland. Aber um auf Ihr »Hobby« zurückzukommen: Sie haben die Tagebücher John Rabes übersetzt. Rabe war in den dreißiger Jahren Geschäftsführer der Siemens-Niederlassung in Nanjing, heute wäre er also vielleicht Ihr Kunde. Der gelernte Hamburger Kaufmann, Jahrgang 1882, war für Siemens schon seit 1911 in China tätig. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?
Der Volksverlag in Nanjing ist 1996 an mich herangetreten, ich solle ein Buch aus dem Deutschen übersetzen – das Tagebuch von John Rabe, dem Oskar Schindler Chinas.
Auf Schindler wurde die Welt erst aufmerksam, als ihn Hollywood entdeckte, damals, in den neunziger Jahren. Steven Spielbergs Spielfilm »Schindlers Liste« bekam sieben Oscars und war weltweit auch kommerziell sehr erfolgreich.
Das stimmt. Das erfuhr ich aber alles erst später. Von John Rabe hatte ich bis dato noch nie etwas gehört. Ich musste mich erst informieren, als der Auftrag an mich herangetragen wurde. Ich war damals Deutschlehrer an der Universität in Nanjing.
Das über zweieinhalbtausend Jahre alte Nanjing war in den Dreißigern Hauptstadt der 1912 gegründeten Republik China. Japan führte schon seit Jahren Krieg gegen China und eroberte die Millionenstadt am 13. Dezember 1937. Binnen sechs Wochen schlachteten die Invasoren an die dreihunderttausend Menschen ab. Auch wenn es in anderen chinesischen Orten vergleichbare Massaker gab, war dies das blutigste. Vielleicht war es sogar das größte der Menschheitsgeschichte. Rabe hatte mit den in der Stadt verbliebenen Ausländern ein Internationales Komitee gebildet, das eine neutrale Sicherheitszone von etwa vier Quadratkilometern einrichtete, in der Chinesen Schutz finden sollten. Auf Rabes Grundstück, also die Siemensvertretung mit Wohnhaus und separatem Office, flüchteten über sechshundert Chinesen. Das Anwesen Nr. 1 Xiaofenqiao ist keine fünfhundert Quadratmeter groß. Es haben dort entsetzliche Zustände geherrscht. Und das über Wochen, bis das Massenmorden außerhalb der Mauern endete.
Rabe hatte damals minutiös über die Vorgänge Tagebuch geführt, sechs Kladden mit Text und Fotos. Die wurden sechzig Jahre danach interessant. Vermutlich war der Welterfolg von »Schindlers Liste« daran nicht ganz unschuldig, dass Rabes in China geborene Enkelin Ursula Reinhardt das Buch in New York auf einer Pressekonferenz präsentierte. Der Volksverlag kam also zu Ihnen und bat Sie um die Übersetzung.
Ja. Der Verlag hatte den Auftrag von ganz oben bekommen, das in Aussicht gestellte Honorar war auch gut. Aber: Es sollte schnell gehen. Ein Vierteljahr gaben sie mir dafür. Das reicht nicht, sagte ich, ich kenne den Autor doch gar nicht. Es ist für mich ein Grundprinzip, dass ich mich vorher über einen Verfasser, dessen Text ich übersetzen soll, und das historische Umfeld, in dem er schrieb, ausreichend informiere. Gut, sagte der Verlag, dann solle ich in die 1985 eröffnete Gedenkstätte für die Opfer des Massakers von Nanjing gehen. In der Museumsausstellung findet sich einiges zu Rabe, auch eine Ausgabe seines Tagebuchs, und der Leiter der Einrichtung werde mich auch über den Autor informieren. Das tat er.
Was erfuhren Sie?
Dass Rabe von den Verbrechen der Japaner entsetzt gewesen und an seinen »Führer« in Berlin die Bitte gerichtet hatte, mäßigend auf seinen Verbündeten einzuwirken. Es gab schließlich die Achse Berlin–Tokio. Die beiden faschistischen Staaten hatten vor Jahresfrist einen sogenannten Antikominternpakt geschlossen.
Sollen wir mal raten: Hitler hat darauf nicht reagiert.
Rabe war im Februar 1938 von Siemens aus China abgezogen worden und ist nach Berlin zurückgekehrt. Er machte aus seinen sechs Tagebüchern einen Band, weil Hitler nicht so viel Zeit zum Lesen hatte. Rabe hielt Vorträge über die von ihm erlebten Kriegsverbrechen, und bekam Besuch von der Gestapo. Es wurden die Filmaufnahmen eines US-amerikanischen Missionars aus Nanjing beschlagnahmt, auch Rabes Tagebücher, und er selbst kam in Haft. Dort blieb er nicht lange. Er erhielt die Tagebücher zurück und die Weisung, über das Gesehene zu schweigen. Daran hielt er sich.
Nach dem Krieg galt er, weil NSDAP-Mitglied, als belastet, Siemens stellte ihn nicht ein, so lange er von den Briten nicht entnazifiziert wurde, und die Briten mochten Rabe keinen Persilschein ausstellen, weil er doch in Nanjing den dortigen Nazihäuptling gelegentlich vertreten hatte.
Rabe ging es damals wirtschaftlich und gesundheitlich miserabel, er war schon geraume Zeit Diabetiker. Hilfe kam jedoch aus Nanjing: Die Chinesen stellten ihm einen guten Leumund aus und schickten ihm auch zweitausend Dollar. Und via Schweiz sandte Nanjings Bürgermeister Shen Yi im März 1948 Milchpulver, Fleisch, Wurst und Tee. Rabe dankte zweimal dem vom Stadtparlament in Nanjing ins Leben gerufenen Spendenausschuss, der ihm jeden Monat ein Lebensmittelpaket zukommen ließ. Siemens stellte ihn wieder ein, allerdings nur als schlecht bezahlten Dolmetscher. Nach einem Schlaganfall ist John Rabe dann Anfang 1950 in Berlin verstorben.
Sie bekamen also die Kopie der einbändigen Tagebuchversion mit der Maßgabe, sie in drei Monaten zu übersetzen?
Dazu hätte ich ein Jahr benötigt. Also holte ich mir noch fünf Kollegen von der Universität dazu. Wir schafften es in der Frist, aber ich war mit dem Resultat nicht zufrieden. Die Übersetzung war korrekt, authentisch wie man sagt, aber stilistisch nicht einheitlich. Nach zwei, drei Jahren war die erste Auflage verkauft. Da wünschte der Verlag eine zweite Auflage.
Wie hoch war die Erstauflage?
Ich glaube, so um die 100.000.
Und die zweite Auflage?
Keine Ahnung, wie viele Exemplare davon gedruckt wurden. Es gab ja auch eine dritte und eine vierte Auflage … Ich kann nur sagen, dass meiner Bitte entsprochen wurde und ich allein eine neue Übersetzung anfertigte. Sie war stilistisch aus einem Guss. Der Verlag wünschte das als eine Art Sonderausgabe für die jüngere Generation. Die Untersuchungen des Internationalen Sicherheitskomitees haben wir weggelassen. Dort waren Aussagen der Japaner mit ausführlichen Schilderungen ihrer Bestialitäten enthalten. Man muss für Kinder beispielsweise die Vergewaltigung von Frauen und andere grauenhafte Exzesse nicht detailliert wiedergeben, damit sie begreifen, was damals geschah.
Ich folgte den Intentionen Rabes, der sich einer fast emotionsfreien Sprache bediente. Er beschrieb sachlich, was er selbst gesehen hatte.
Beamtendeutsch, weil er es nicht anders konnte oder wollte? Oder war er naiv? Wie konnte er beispielsweise annehmen, dass Hitler auf seine Bitte um Intervention in Tokio positiv reagieren würde?
Ich glaube nicht, dass Rabe naiv war. Er war ein Humanist, vielleicht ein idealistischer Menschenfreund. Der gebürtige Hamburger hatte vor seinem China-Einsatz in Afrika gearbeitet, er war nicht nur polyglott, sondern auch multikulturell. Er war kein überzeugter Nazi. Ich weiß, dass insbesondere in Deutschland unterstellt wurde, dass mit der Aufmerksamkeit für den »guten Nazi Rabe« die Verbrechen der deutschen Faschisten in den Hintergrund verschoben werden sollten. Vermutlich bin ich zumindest in China der beste Kenner dieses Mannes: Man tut ihm Unrecht, wenn man Rabe auf die Funktion eines Feigenblatts reduziert. Er hätte sich auch dagegen verwahrt.
Worin unterscheidet sich der eine Band, der in deutscher Sprache in Gänze noch nie gedruckt wurde, wohl aber in anderen Sprachen vorliegt, von den ursprünglich sechs Tagebüchern?
Rabe hatte alle erklärenden zeitgenössischen Dokumente, insbesondere Zeitungsausschnitte, in sein Tagebuch aufgenommen. Die sechs Tagebücher waren in China entstanden. Nach seiner Rückkehr in Berlin hat er daraus Dokumente entfernt und diesen einen Band für Hitler erstellt. Er umfasste die Monate von August 1937 bis Februar 1938.
Weil Hitler ja nur wenig Zeit zum Lesen hatte, also nur dieser eine Band … Beschäftigen Sie sich noch immer mit Rabe?
Selbstverständlich, dazu fühle ich mich verpflichtet. Aktuell arbeite ich an einer kommentierten Ausgabe der sechs Bände, recherchiere Namen und kontextuelle Bezüge, Orte und Institutionen, die schon heute niemand mehr kennt. In fünfzig oder hundert Jahren werden sie kaum noch zu entschlüsseln sein. Das müssen wir heute machen, damit die Nachkommenden die Geschichte verstehen.
Sprach Rabe überhaupt Chinesisch?
Nein, das macht die Sache ja so schwierig. Er notierte Namen von Personen oder Plätzen, wie er die Bezeichnungen phonetisch wahrnahm. Die tatsächlichen Namen, deren Schriftzeichen daraus zu rekonstruieren, sie auf den chinesischen Ursprung zurückzuführen, ist wahrlich keine einfache Aufgabe.
Gibt es Nachfahren von Rabe?
Ja, den 1951 geborenen Enkel Thomas Rabe, ein Arzt in Heidelberg, der ein internationales Friedensnetzwerk ins Leben rief. Im ehemaligen Wohnhaus hier in Nanjing befindet sich das John-Rabe-Kommunikationszentrum, das etliche Jahre einen nach Rabe benannten Friedenspreis vergab. Es ist dort auch ein Foto zu sehen, das die Familie Ende der vierziger Jahre zeigt: Dora und John Rabe mit ihrer Tochter und deren Mann sowie ihren beiden Enkelinnen. Die eine – Ursula Reinhardt, in China geboren, in Berlin lebend – präsentierte 1996 auf einer Pressekonferenz in New York erstmals der Welt die Tagebücher ihres Großvaters. Ich habe Frau Reinhardt getroffen, als sie im September 1997 in Nanjing war. Erwin Wickert, der 1997 ein Buch über John Rabe in Deutschland publizierte, welches auf dessen Tagebüchern fußte (»John Rabe. Der gute Deutsche aus Nanking«), hingegen traf ich nie. Er verstarb 2008.
Dieser Wickert – SA-Mitglied seit 1933 – hatte als Student Rabe in Nanjing getroffen, seit 1939 hatte er für die Auslandspropaganda des Auswärtigen Amtes in Shanghai und Tokio gearbeitet. Er war von 1976 bis 1980 Botschafter der Bundesrepublik in China. Ihm sind in der Ausstellung im Rabe-Haus viele freundliche Bemerkungen gewidmet.
Ach, wir Chinesen waren und sind dankbar für jede Stimme, die die an unserem Volk durch die japanischen Aggressoren begangenen Verbrechen international anspricht. Wir haben im Zweiten Weltkrieg rund 35 Millionen Menschen verloren – weiß man das in Europa überhaupt? Und dass in Nanjing rund 300.000 Chinesen von Japanern massakriert wurden, wird noch immer vom Tätervolk bestritten. Das sei alles Propaganda. Allenfalls spricht man von einem »Zwischenfall«. Entschuldigt hat sich in Tokio noch kein Offizieller für die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschheit.
Auch über John Rabe wurden Spielfilme gedreht, einer in China, ein anderer in Deutschland. Die Resonanz war mäßig, was aber nicht daran lag, dass der Regisseur nicht Steven Spielberg hieß. Bei Schindler war der Widerpart das Hitlerreich. Es ging am 8. Mai 1945 unter. Bei Rabe war es das Hirohitoreich. Das blieb. Mit Japan aber wollte und will es sich niemand wegen der Vergangenheit verderben. So beschweigt man denn lieber dessen zwischen 1932 und 1945 verübte Untaten, als sie anzusprechen.
Und auch China selbst mochte lange Zeit nicht über Nanjing reden. Schließlich war der Einmarsch der Japaner in die einstige Hauptstadt objektiv eine chinesische Niederlage, auch wenn die Regierung damals die von Chiang Kai-shek war. Er war zwar kein Freund der Kommunisten – aber er und seine Soldaten waren schließlich Chinesen.
Liu Hainang lebt in Nanjing, machte 1977 dort Abitur, studierte in Shanghai Germanistik, arbeitete fünf Jahre als Dolmetscher für ein Chemieunternehmen und dann von 1989 bis 1998 als Deutschlehrer. Danach war er im Verbindungsbüro zu Baden-Württemberg tätig. 2013 gründete er eine Managementfirma, die aktuell 26 mittelständische deutsche Unternehmen betreut. Nebenbei übersetzt er Bücher aus dem Deutschen ins Chinesische, etwa Friedrich Schiller, die Tagebücher John Rabes oder Romane der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 23.08.2022
Vorwand Klimaschutz
- 26.01.2022
Sympathische Kommunistin
- 23.12.2020
Berlin droht China
Mehr aus: Wochenendbeilage
-
Klassenherrschaft – Hindernis für Produktivkraftentwicklung
vom 28.09.2024 -
Die Prorussen sind da
vom 28.09.2024 -
Die Hobbys der Superreichen
vom 28.09.2024 -
Brett im Kopf
vom 28.09.2024 -
Lanttulaatikko – Steckrübenauflauf
vom 28.09.2024 -
Kreuzworträtsel
vom 28.09.2024