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Aus: Ausgabe vom 30.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Literatur

Geißel und Gabe

Journalismus als Kunst, Kunst der Selbstvermarktung. Zum 100. Geburtstag von Truman Capote
Von Andreas Hahn
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Irgendwie fehl am Platz: Truman Capote 1976, in seiner einzigen Filmrolle in »Murder by Death«

Hinterwäldler, Boy Wonder, Enfant terrible, schwule Ikone, echtes Genie. Hinterwälder aus dem Süden, in einer Welt aus Sumpf und Spuk, in der man Katzenwelse mit bloßen Händen fängt (alles eine Frage von Technik und Aufmerksamkeit, dann ist das keine so schwierige Aufgabe mehr), dann aber ist mitten in kulturloser Abgeschiedenheit plötzlich doch Harper Lee seine Nachbarin und Kindheitsfreundin (Freundin und Kollegin sollte sie lange bleiben). Verstoßenes Kind einer verkrachten (und noch sehr jungen) Südstaatenschönheit und eines Hochstaplers, aber dann doch seit seiner Pubertät der Inbegriff des Literatur-New-Yorkers (obwohl er lange Jahre an wechselnden Orten in Europa gelebt hat): »Ich mag Pflasterstein, den Klang meiner Schuhe auf dem Pflaster, vollgestopfte Schaufenster, nächtliche Sirenen. (…) New York ist die einzige wirkliche Stadt der Welt, die einzige city city«. Gut, er sagte das 1972, in einem »Selbst­porträt«. Seitdem sind schon einige Sohlen auch auf anderen Pflastern plattgelaufen worden, geschenkt.

Boy Wonder, sein erster Roman »­Other Voices, Other Rooms« erscheint, als er gerade einmal 23 Jahre alt ist. Auf dem berüchtigt lasziven, androgynen Foto von ihm auf der Rückseite des Schutzumschlags der Erstausgabe sieht er noch wesentlich jünger aus. Er ist klein, hat eine Fistelstimme und wirkt kindlich und frühreif zugleich. Nebenbei ist das literarische Wunderkind ein echter Schulversager. Auf einem College war er nie. Sein Harvard war seine langjährige Liebesbeziehung zu dem wesentlich älteren Literaturprofessor Newton Arvin. Später im Leben, wie es die Großberühmtheit erfordert, wenn man grad nichts Besseres zu tun hat, hat er auf Colleges natürlich geredet. Angemessen zugemützt gab er den Studenten die üblichen nützlichen Ratschläge der Zunft. Wenn sie denn schon Schriftsteller werden wollten, wieso sitzen sie dann nicht zu Hause und schreiben, statt einem alten Sack, wie ihm zuzuhören? Danach bricht er vor dem Podium zusammen. Enfant terrible, klar. Exzesse sind unverzichtbar. Die College-Anekdote stammt aus dem Vorwort von James A. Michener für Lawrence Grobels 1985 erschienenes Buch »Conversations with Capote«. Der Titel der deutschen Ausgabe ist verräterischer: »Ich bin süchtig. Ich bin schwul. Ich bin ein Genie.« Er ist ebenfalls einer Anekdote von Michener zu verdanken, der Capote in einem seiner vielen schwachen Momente erwischte, als der mit der entsprechenden Aussage als Bildunterschrift in einer Verlagswerbung angeben wollte. Michener nahm ihm den schwulen Süchtigen gerne ab, aber Genie?

Das muss schon angemessenen Raum einnehmen. 100 Jahre Truman Capote, das Genie. Das bedeutet zwar auch nicht viel mehr als 99 Jahre oder 101, aber so muss das halt laufen. Beim 100. darf schon mal die eine oder andere Seite mit Worten gefüllt werden. Der Gegenstand wird so den Worten angemessen genug erscheinen. Schon ganz andere haben das festgehalten. »Ich bewundere jedenfalls Leute, die gut mit Worten umgehen können, und ich dachte mir, Truman Capote füllte den Raum auf den Seiten so gut mit Worten, dass ich, als ich zum ersten Mal nach New York kam, anfing, ihm kurze Fanbriefe zu schreiben und ihn jeden Tag anzurufen, bis seine Mutter mir sagte, ich soll das sein lassen.« Andy Warhol erinnert sich, da waren die beiden schon Freunde geworden, gelegentlich Kollaborateure. Warhol beschäftigten erklärtermaßen »Space Writers«, Schreiber, die dafür bezahlt werden, wieviel sie schreiben. Es gibt noch immer nicht wenige davon. Und die reine Quantität war für Andy Warhol bekanntlich das Maß aller Dinge.

Capote schrieb Ende der 70er Jahre auch für Warhols Magazin Interview. Aus diesen und anderen Artikeln entstand 1980 sein letztes zu seinen Lebzeiten erschienenes Buch: »Music for Chameleons.« Seit dem Erfolg von »In Cold Blood«, also seit 1966, hatte er kein Buch mehr veröffentlicht. Was trieb er, der immer behauptet hatte, nur fürs Schreiben geboren zu sein, statt dessen? Er spielte den Salonlöwen für die große Welt, einen Hang zur guten New Yorker Gesellschaft hatte er schon seit seiner Jugend in der Stadt in den 40er Jahren. Als er bei dieser im Laufe der 70er aufgrund einiger Indiskretionen ein wenig in Ungnade fiel, trieb er sich an den richtigen Orten herum. Sein Biograph (und Freund) Gerald Clarke erwähnt seinen Lieblingsort im Studio 54: »Truman bevorzugte die DJ-Kanzel über dem Dancefloor, ein Ausguck, von wo aus er sehen konnte, ohne gesehen zu werden. ›Ist es nicht schade, dass Proust so etwas nicht gehabt hat?‹« Da war das meiste fast schon gelaufen. Das ziemlich romaneske Leben. Es verlief sich in seinen Fehden mit dem New Yorker Geldadel.

Übermäßig viel hat Truman Capote in den sechzig Jahren seines Lebens gar nicht geschrieben, vor allem, wie gesagt, in den letzten zwanzig nicht mehr. Er arbeitete seit den 50ern an »Answered Prayers«, den »amerikanischen Proust« wollte er liefern, seinen Roman à clef, den Schlüssel zu allem und allen. Er ließ die Fragmente liegen. Nahm die Arbeit Anfang der 70er wieder auf, ließ sie nach dem Misserfolg der ersten Vorabdrucke 1977 dann noch einmal liegen. Endgültig.

Was das Schreiben angeht, hatte Truman Capote allerdings, obwohl nach eigener Aussage »consistently inconsistent«, wenigstens ein paar Grundsätze. Einer betraf das Geld: »Well, ich kann mir nichts Ermutigenderes vorstellen, als dass jemand deine Arbeit kauft. Ich schreibe niemals – und bin tatsächlich physisch unfähig dazu – irgend etwas zu schreiben, von dem ich nicht denke, dass ich dafür bezahlt werde«, sagte er 1957 im Interview mit der Paris Review. Am selben Ort dann auch Wichtiges über Schreibtechnik: »I’m a completely horizontal author. Ich bin gänzlich ein Autor der Waagerechten. Ich kann nicht denken, wenn ich nicht im Bett oder auf einer Couch liege. Zigaretten und Kaffee zur Hand. Ich muss paffen und schlürfen. Gegen Nachmittag wechsle ich dann von Kaffee zu Pfefferminztee, Sherry und Martinis.«

Er hatte es offensichtlich gern bequem, aber später, rückblickend, in seinem eigenen Vorwort zu »Music for Chameleons« schreibt er, dass er sich an dem Tag, als er zu schreiben begann, lebenslang an einen noblen, aber erbarmungslosen Herren gekettet hatte. »Wenn Gott dir ein Geschenk macht, dann reicht er dir zugleich auch eine Peitsche, und diese Peitsche ist ausschließlich zur Selbstgeißelung gedacht. (…) Der Spaß hörte auf, als ich den Unterschied zwischen guter und schlechter Schreibe entdeckte.«

Wenn auch kein Spaß mehr drin war, so hatte er eine Entdeckung gemacht. Journalismus als Kunstform. Ende der 60er war er damit freilich nicht der einzige. Norman Mailer und all die anderen, die neben Capote und Mailer in Tom Wolfes Anthologie »The New Journalism« versammelt waren, erhoben auch ihre Ansprüche. Er hatte sie nur ziemlich früh gemacht. Als er im Dezember 1955 von Westberlin aus nach Leningrad aufbrach, um das Ensemble von »Porgy and Bess« auf ihrer amerikanischen Opernmission in die Sowjetunion zu begleiten. Oder als er nach Japan ging, um Marlon Brando beim Filmdreh zu beobachten.

»Für mehrere Jahre fühlte ich mich immer mehr zum Journalismus als einer Kunstform hingezogen. Zunächst schien es mir so zu sein, dass seit den 20er Jahren in der Prosa oder im Schreiben nichts Innovatives mehr geschehen war, und zweitens schien mir Journalismus als Kunst ein fast jungfräulicher Boden zu sein. Mit ›The Muses Are Heard‹ wollte ich einen journalistischen Roman schaffen, der die Glaubwürdigkeit der Tatsachen, die Unmittelbarkeit des Films, die Tiefe und Freiheit der Prosa und die Präzision der Lyrik verbindet.«

Truman Capote wurde am 30. September in New Orleans geboren. Er starb am 25. August 1984 ausgerechnet in einer Stadt, die er verabscheute: Los Angeles. So kann man das sagen, danach kommt die Kür. Das ist die Peitsche, die herabsaust.

Chronologie

1924: Geburt am 30. September in New Orleans, als Kind von Lillie Mae Faulk Persons und Arch Persons auf den Namen Truman Streckfus Persons getauft.

1930: Lebt bei Verwandten der Mutter in Monroeville, Alabama

1931: Scheidung der Eltern am 9. November. Seine ­Mutter ändert ihren Vornamen in Nina und zieht nach New York.

1932: Die Mutter heiratet am 24. März in New York den kubanischen Geschäftsmann Joseph Capote und lässt ihren Sohn nachkommen.

1935: Joseph Capote adoptiert am 14. Februar seinen Stiefsohn, der fortan den Namen Truman Capote trägt.

1939: Die Familie zieht nach Greenwich, Connecticut. Truman kommt auf die Greenwich High School.

1942: Die Capotes ziehen zurück nach New York, in die Park Avenue. Truman fällt bei den Abschlussprüfungen seiner Highschool durch und kommt auf eine Privatschule.

1943: Truman holt seinen Highschoolabschluss an der Franklin School nach (sein einziger akademischer Erfolg) und wird für einige Monate Redaktionsgehilfe beim Magazin The New Yorker (»Mein erster und letzter Job«). Erste Veröffentlichung einer Kurzgeschichte (»The Walls are Cold«) in der Anthologie »Decade of Short Stories«.

1945: Weitere Kurzgeschichten erscheinen in renommierten Modezeitschriften wie Mademoiselle und ­Harper’s Bazaar.

1948: Der Debütroman »Other Voices, Other Rooms« erscheint am 19. Januar bei Random House. Er reist als Reporter für Harper’s Bazaar nach Haiti. Die Erzählung »House of Flowers« ist das Resultat der Reise.

1950: Lebt mit seinem langjährigen Lebensgefährten Jack Dunphy auf Sizilien

1951: Zwischenzeitliche Rückkehr nach New York. Der Kurzroman »The Grass Harp« erscheint im September. Eine Bühnenfassung wird im Folgejahr am Broadway ­uraufgeführt.

1953: Arbeitet in Italien am Drehbuch für John Hustons Film »Beat the Devil«.

1954: Seine Mutter Nina begeht Suizid mit Schlaftabletten. Truman befindet sich zu dem Zeitpunkt in Paris.

1956: Truman und Dunphy ziehen nach Brooklyn Heights. Reise in die Sowjetunion zusammen mit dem Ensemble der Oper »Porgy and Bess«, die in Leningrad aufgeführt wird. Capotes Reisereportage erscheint zunächst im New Yorker, dann in Buchform unter dem Titel »The Muses Are Heard«.

1958: Reise nach Moskau. »Breakfast at Tiffany’s« ­erscheint.

1959: Liest die Nachricht von dem Mord an der Familie Clutter in der New York Times und fährt mit seiner Freundin und Kollegin Harper Lee nach Holcomb, Kansas. Der Beginn der fünfjährigen Recherchen für »In Cold Blood«

1960: Perry Smith und Dick Hickock werden des Mordes für schuldig befunden. Capote und Dunphy leben abwechselnd in Spanien und in der Schweiz.

1961: Verfilmung von »Breakfast at Tiffany’s« durch ­Blake Edwards mit Audrey Hepburn in der Hauptrolle

1964: Am 14. April werden Perry und Hickock hingerichtet. Capote ist anwesend.

1966: »In Cold Blood« erscheint in Buchform, nachdem es im Vorjahr als Fortsetzungsgeschichte im New Yorker abgedruckt worden war. Capote gibt im Manhattan ­Plaza Hotel seinen berühmten Ball, den »Black and White Dance«, der seinen Ruf als Gesellschaftslöwe für ein gutes Jahrzehnt begründet.

1967: Verfilmung von »In Cold Blood« durch Richard Brooks

1975: Das Kapitel »La Côte Basque, 1965« aus seinem fragmentarischen »Schlüsselroman« über die New Yorker Gesellschaft »Answered Prayers« erscheint in der Oktoberausgabe von Esquire. Es kommt zum Skandal.

1980: Capotes letztes Buch »Music for Chameleons« erscheint.

1984: Capote stirbt am 25. August in Los Angeles.

1986: »Answered Prayers« erscheint posthum.

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