Mehr als die Hälfte arm
Von Volker HermsdorfZehn Monate nach dem Amtsantritt des argentinischen Präsidenten Javier Milei droht dessen neoliberale Politik, das Land in eine humanitäre Krise zu stürzen. Im ersten Halbjahr hatten fast 20 Prozent der Bevölkerung nicht genug Geld, um sich zu ernähren. Nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde INDEC sind mittlerweile 52,9 Prozent unter die Armutsgrenze gerutscht. Ein Anstieg um 11,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die angesehene Universidad Católica Argentina (UCA) gibt die aktuelle Armutsquote sogar mit 54,9 Prozent an. Damit leben in Argentinien derzeit mehr arme Menschen als nicht von Armut betroffene. Übereinstimmend melden beide Institutionen, dass der Anteil der bedürftigen Bevölkerung in »extremer Armut« in der ersten Jahreshälfte von 11,9 auf 18,1 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig steckt das Land in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rechnet für das laufende Jahr mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um vier Prozent – der schlechteste Wert aller G20-Länder.
Die INDEC-Untersuchung berücksichtigt den Lebensstandard in den 31 bevölkerungsreichsten Zentren des Landes, in denen 29,6 Millionen der rund 46 Millionen Argentinier leben. Dem Bericht zufolge sind die Städte mit der höchsten Armutsquote Resistencia (76,2 Prozent) in der Provinz Chaco und Formosa (67,6 Prozent), der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, die wie Chaco im Nordosten des Landes liegt. Auch in den städtischen Ballungsräumen der Provinz Buenos Aires stieg die Zahl der Armen und Bedürftigen überproportional an. Die am stärksten betroffene Bevölkerungsgruppe sind Kinder bis 14 Jahre, bei denen die Armutsquote 66,1 Prozent und die Bedürftigkeitsquote 27 Prozent beträgt. Die Entwicklung erinnert an die Situation nach der schweren Wirtschaftskrise von 2001, in deren Folge Argentinien zu einem der ärmsten Staaten der Welt wurde. Die bisher höchste Armutsquote wurde im Oktober 2002 gemessen, als der Index nach der Krise auf 57,5 Prozent angestiegen war.
»Dieser Anstieg der Armut und extremen Armut ist schrecklich, war aber vorhersehbar angesichts von Lohnkürzungen, insbesondere im öffentlichen Sektor, eingefrorenen Renten und gestrichenen Sozialprogrammen«, erklärte Mariana González, eine Ökonomin des gewerkschaftsnahen Zentrums CIFRA-CTA, am Wochenende gegenüber der Tageszeitung Página 12. Hernán Letcher, der Direktor des argentinischen Zentrums für Wirtschaftspolitik (CEPA), bezeichnet die zunehmende Armut als »anschaulichste Darstellung des Milei-Modells«. Dessen Politik fördere Mechanismen zur Einkommensumverteilung, mit denen versucht werde, »den einkommensschwächsten Schichten zugunsten der wohlhabenderen Geld zu entziehen«. Ein Ende dieses Abwärtstrends ist nicht abzusehen. Nur einen Tag nach Veröffentlichung der Armutsstatistik kündigte die Regierung Hunderten von Staatsangestellten per E-Mail zum Monatsende ihre befristeten Verträge auf. Obwohl die genaue Zahl der Entlassenen noch nicht bekannt sei, könnten letztlich 65.000 Beschäftigte davon betroffen sein, schätzt die Gewerkschaft der Staatsangestellten (ATE). Die Entlassungen beträfen nicht nur Personal, das in den vergangenen Jahren eingestellt wurde, sondern auch Personen mit 15, 20 oder mehr Jahren Betriebszugehörigkeit. Bislang hat das Milei-Regime nach CEPA-Angaben bereits mehr als 30.000 staatliche Beschäftigte gefeuert. Angesichts der neuen Entlassungswelle ruft die Gewerkschaft ATE zu Kundgebungen vor öffentlichen Gebäuden und Versammlungen am Arbeitsplatz auf, um Widerstand zu organisieren.
Den sich als »Anarchokapitalisten« bezeichnenden Milei beeindruckt das nicht. Auf einer Veranstaltung seiner Rechtspartei »La Libertad Avanza« bestritt er am Sonnabend den INDEC-Bericht. Er möchte »all diesen heuchlerischen, sensiblen Verarmenden« sagen, dass »die Armut tatsächlich sinkt«, Löhne und Renten steigen, seine Regierung »die beste der Geschichte« sei und seine Partei 2025 einen Wahlsieg erringen werde, der »den Populisten den Untergang bringen wird«, zitierte Página 12 aus seiner Rede. Der Präsident befinde sich offenbar in »Mileilandia«, kommentierte die Zeitung am Sonntag.
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