Nackte Abhängigkeit
Von Eileen Heerdegen»Klug, wer besorgt, und dumm, wer sorglos ist«
»Die Zeit ist aus den Fugen« – William Shakespeare wusste es schon knapp 350 Jahre vor Bertolt Brecht. Ein Beweis, dass die Menschheit nichts aus der Geschichte und den vergangenen Katastrophen lernt, bis sie selbst Geschichte sein wird, bis sie es endgültig zu weit getrieben hat. Die Menschheit? Ach, der Mensch ist schwach, aber die meisten sind so schwach, dass sie nicht einmal den Hauch einer Chance haben, in den Lauf der Welt einzugreifen.
Im Mai 2024 waren weltweit 120 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Klimakatastrophe. Wann werden wir es sein? 1940 notiert Brecht: »Auf der Flucht vor meinen Landsleuten bin ich nun nach Finnland gelangt (…) Im Lautsprecher höre ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig betrachte ich die Karte des Erdteils. Hoch oben in Lappland nach dem nördlichen Eismeer zu, sehe ich noch eine kleine Tür.«
»Herr Puntila und sein Knecht Matti« war eigentlich der Beitrag zu einem finnischen Volksstückwettbewerb und beruht auf einer Vorlage von Brechts Gastgeberin Hella Wuolijoki. B. B. überzeugte sie, auf ein Herzschmerz-Happy-End zu verzichten zugunsten seiner Überzeugung, dass »Herr und Knecht niemals in ein herrschaftsfreies Verhältnis eintreten können«. Brechts Fassung gewann keinen Preis, wurde aber zu einem seiner populärsten Stücke, auch von ihm selbst hochgeachtet – seine erste Regiearbeit nach dem Krieg (anonym bei der Uraufführung 1948 in Zürich) und dann im November 1949 Eröffnungsaufführung des Berliner Ensembles.
Die Bühne des Hamburger Schauspielhauses sieht bei der Premiere am 22. September aus wie nach einem Bombenabwurf. Ein gutes Sinnbild für apokalyptische Zustände, die das Jahr 1940 und das Heute verbinden. Kein Gott ist dafür zuständig, kein Unheil einfach so über uns hereingebrochen. Zerstörung von Lebensgrundlagen, Krieg, Faschismus, alles menschengemacht, kapitalismusgemacht. »Der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus«, schreibt Brecht im Abschnitt »Die Kunst, die Wahrheit handhabbar zu machen als eine Waffe« seines berühmten Aufsatzes »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit« (1935).
Wenn der Herr Puntila trinkt, dann wird er Mensch. Dann verbrüdert er sich mit Chauffeur Matti und macht jedem Wesen, das halbwegs nach Frau aussieht, einen Heiratsantrag. Zur Verdeutlichung werden die bei Karin Beier (die Intendantin führt selbst Regie) von Männern dargestellt, mit minimal weiblich gelesenen Kostümaccessoires. Der Verzicht auf peinliches Crossdressing und die komödiantische Spielfreude der Herren Jan-Peter Kampwirth, Josef Ostendorf, Michael Wittenborn und Maximilian Scheidt machen die Auftritte zum Vergnügen.
Komödiantisch, ja clownesk geht es auf der Bühne zu. Allen Schauspielern wird eine große Körperlichkeit abverlangt, bis hin zur Akrobatik. Joachim Meyerhoff, mit Bart und Langhaarperücke kaum erkennbar, ist als Puntila eine versoffene Urgewalt, eine grandiose Leistung und doch vielleicht ein wenig zu undifferenziert, zu gleichmäßig unsympathisch in den zwei Seelen in seiner Brust. Kristof Van Boven ist ein abgeklärter Matti, der jeden Mist mitmacht, aber nie vergisst, wohin er gehört und vor allem weiß, dass Eva, Puntilas Tochter, nie seine Frau werden kann, denn da braucht er eine, wo er der Herr ist. 1940 kein nachdenkenswertes Thema, 80 Jahre später hätte ich mir gewünscht, dass eine Regisseurin diese Frauenfigur mehr als das Opfer zeigt, das sie ist. Lilith Stangenberg ist eine sehr überzeugende, wirbelwindige »wohlstandsverwahrloste Waldorfschülerin«, wie es der modernisierte Text beschreibt, und sie ist eine Schönheit mit Modelfigur. Muss man sie deshalb nackt auftreten lassen? Okay, der Matti zieht auch blank, aber ich persönlich könnte gut auf nervös herumschwingende Dödel und Intimfrisuren verzichten. Seinerzeit die nackte Suse Lothar als »Lulu«, die pure Schutzlosigkeit, sinnvoll und richtig, aber hier? Und wieviel freiwillige Nacktheit gibt es am Theater, wo schließlich auch, und mehr als der Laie glauben möchte, gilt: »Solange Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, lässt es sich nicht auf Augenhöhe begegnen.«
Das Werk kann seinen Volksstückcharakter nicht verleugnen und wäre vielleicht an einer Bühne wie etwa dem Ohnsorg-Theater kraftvoller. Trotz des hervorragenden Ensembles entsteht streckenweise Langeweile, die dreiundetwas Stunden sind viel zu lang. Highlights sind die kleinen komischen Momente des Michael Wittenborn und der große, wunderbare Josef Ostendorf, der inmitten perfekter Körper zeigt, dass ältere Männer zu schwellenden Herrentitten neigen und trotzdem zum Niederknien sein können – wirklich berührende Momente mit Ostendorfs Vortrag von Liedern aus Paul Dessaus Opernfassung des Stücks.
Nächste Vorstellungen: 3., 10. und 14. Oktober
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