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Aus: Ausgabe vom 01.10.2024, Seite 6 / Ausland
VR China

Chinas langer Atem

75 Jahre Volksrepublik: Der Übergang zum Sozialismus setzt die Überwindung von Abhängigkeiten voraus
Von Tings Chak und Vijay Prashad
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Tag der Märtyrer: Schüler gedenken am Montag in Beijing der Opfer des antikolonialen Befreiungskampfes

Am 1. Oktober 1949 verkündete Mao Zedong die Gründung der Volksrepublik China. Dreihunderttausend Menschen waren auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing zusammengekommen, um die neue Regierung zu begrüßen. Der Führer der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) entrollte die neue Landesflagge, und anschließend ließ Militärchef Zhu De die Volksbefreiungsarmee defilieren. Ähnliche Feiern fanden auch in anderen Teilen des Landes statt. Die Gründung der Volksrepublik setzte einem Jahrhundert der imperialistischen Demütigung ein Ende, das mit dem von den Briten aufgezwungenen Ersten Opiumkrieg 1839 begonnen hatte und nach der japanischen Invasion 1931 in der Mandschurei im langen Zweiten Weltkrieg kulminiert war. Zehn Tage vor Ausrufung der Volksrepublik hatte Mao auf einer Plenarsitzung gesagt: »Wir sind alle überzeugt, dass diese unsere Arbeit in die Geschichte der Menschheit eingehen wird, und sie wird zeigen: Die Chinesen, die ein Viertel der Menschheit bilden, sind nunmehr aufgestanden.«

Armut besiegt

In den 29 Jahren bis zur Einleitung der bis in die Gegenwart reichenden Reformperiode 1978 stieg die Lebenserwartung in China um 32 Jahre. Mit anderen Worten: In jedem Jahr nach der Revolution verlängerte sie sich im Schnitt um mehr als ein Jahr. Die Analphabetenrate, die 1949 noch bei 80 Prozent gelegen hatte, wurde in weniger als drei Jahrzehnten auf 16,4 Prozent in den Städten und 34,7 Prozent auf dem Lande gesenkt. Die Einschulungsrate stieg von 20 auf 90 Prozent, und die Zahl der Krankenhäuser verdreifachte sich. Von 1952 bis 1977 betrug das durchschnittliche jährliche Wachstum der Industrieproduktion 11,3 Prozent. 1949 war China noch nicht in der Lage, auch nur ein Auto selbst herzustellen, doch bereits 1970 schickte es seinen ersten Satelliten ins Weltall – »Dongfang hong« (Der Osten ist rot) spielte das gleichnamige Revolutionslied in einer Schleife, während er 28 Tage lang in der Umlaufbahn war. Die wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften des Übergangs zum Sozialismus unter Mao bildeten die Grundlage für die Zeit nach 1978.

1954 hatte Mao vor dem Zentralen Rat der Volksregierung gesprochen und eine Frage gestellt, die viele Delegierte beschäftigte: »Wir sind ein großes Land mit 600 Millionen Menschen. Wie lange wird es dauern, bis die sozialistische Industrialisierung, die sozialistische Umgestaltung und die Mechanisierung der Landwirtschaft abgeschlossen sind und China zu einem großen sozialistischen Land geworden ist? (…) Es wird wahrscheinlich eine Periode von drei Fünfjahresplänen oder 15 Jahren brauchen, um das Fundament zu legen. Aber wird China dann tatsächlich ein großes Land werden? Nicht unbedingt. Ich denke, für den Aufbau eines großen sozialistischen Landes müssten etwa 50 Jahre oder zehn Fünfjahrespläne zu veranschlagen sein. Bis dahin wird China in guter Verfassung sein und sich von dem, was es jetzt ist, deutlich unterscheiden. Was können wir heute herstellen? Wir können Tische und Stühle, Teetassen und Teekannen herstellen, wir können Getreide anbauen und Mehl mahlen, und wir können Papier herstellen. Aber wir können nicht ein einziges Auto, ein Flugzeug, einen Panzer oder einen Traktor herstellen. Wir dürfen also nicht prahlen und übermütig sein. Natürlich meine ich nicht, dass wir übermütig werden können, wenn wir unser erstes Auto produzieren, noch übermütiger, wenn wir zehn Autos herstellen, und noch übermütiger, wenn wir mehr und mehr Autos herstellen. (…) Auch in 50 Jahren, wenn es unserem Land gut geht, sollten wir so bescheiden bleiben, wie wir es jetzt sind. Wenn wir bis dahin überheblich werden und auf andere herabschauen, wäre das schlecht. Wir dürfen auch in hundert Jahren nicht eingebildet sein. Wir dürfen niemals überheblich sein.«

Vier Modernisierungen

Drei wichtige Punkte gehen aus dieser Rede hervor. Erstens, dass es Zeit braucht, um den Sozialismus aufzubauen, zumal in einem armen Land wie China. Geduld ist dabei ein zentraler Wert. Zweitens brauchte es Wissenschaft, Technologie und industrielle Kapazitäten, um die Kette der Abhängigkeit zu durchbrechen und hochwertige, moderne Güter zu produzieren. Dazu musste sich China sowohl auf den Import von Wissenschaft und Technologie verlassen als auch sein eigenes wissenschaftliches und technisches Personal ausbilden. Drittens ist Bescheidenheit ebenso entscheidend wie Geduld, denn China will nicht aus nationalem Chauvinismus heraus, sondern im Sinne des internationalen Sozialismus vorankommen.

Das hartnäckige Problem der Abhängigkeit wurde in den Perioden des »Großen Sprungs nach vorn« (1958–1962) und der »Großen Proletarischen Kulturrevolution« (1966–1976) zu lösen versucht, jedoch weitgehend ohne Erfolg. Aus dem Scheitern wurden Lehren gezogen. Im Mai 1976 veröffentlichte Hu Fuming, Mitglied der KPCh und Professor an der Universität Nanjing, einen Beitrag unter dem Titel »Die Praxis ist das alleinige Kriterium für die Beurteilung der Wahrheit«. Diese philosophische Position wurde von Maos Nachfolger an der obersten Führungsposition der Volksrepublik, Deng Xiaoping, in seiner Rede auf der dritten Plenartagung des 11. Zentralkomitees der KPCh 1978 übernommen, die unter der Überschrift stand: »Emanzipiert den Geist, sucht die Wahrheit aus den Tatsachen, vereinigt euch im Blick auf die Zukunft.« Was als Pragmatismus erscheinen mag, war in Wirklichkeit ein Festhalten am Materialismus, um den chinesischen Sozialismus auf die Gleise der Realität zu stellen, statt zu versuchen, die Dinge aus reinem Subjektivismus heraus voranzubringen. Die 1978 eingeleitete Reformära wurde auf diesem philosophischen Fundament aufgebaut.

Im Januar 1963 hatte Premierminister Zhou Enlai ein Programm aufgestellt, das sich auf »vier Modernisierungen« konzentrierte: der Landwirtschaft, der Industrie, der Verteidigung sowie von Wissenschaft und Technologie. In seiner Rede von 1978 kam Deng darauf zurück und sagte, dass man auf die Modernisierungen vergeblich warten werde, »wenn man nicht mit dem verknöcherten Denken aufräumt«. Im darauffolgenden Jahr erklärte er, China müsse danach streben, eine »gemäßigt wohlhabende Gesellschaft« zu werden, was nur durch den Ausbau der industriellen Basis erreicht werden könne. Wer nur die damit verbundene Öffnung des Landes hervorhebt, um technisch entwickelte Industrie ins Land zu holen, bewertet die 1978 begonnene Reformära unausgewogen. Zwei Aspekte sind hervorzuheben: Die Produktivität der Landwirtschaft sollte durch ein System der Haushaltsverantwortung gesteigert werden. Auch sollte die Rolle der KPCh durch eine bessere politische Ausbildung und Disziplinierung der Kader gestärkt werden. 1980 hielt Deng eine Rede, in der er auf die wichtigsten Missstände hinwies: »Bürokratie, übermäßige Machtkonzentration, patriarchalisches Verhalten und führende Kader, die lebenslanges Mandat und Privilegien aller Art genießen.« Das Land wäre niemals in der Lage, die Herausforderung der »vier Modernisierungen« anzunehmen und zum Sozialismus überzugehen, wenn es die Probleme ignoriere, die durch Chinas abhängige Stellung in der neokolonialen Weltordnung entstanden sind, sowie die Verfallserscheinungen, die aufträten, wenn Macht zum Selbstzweck werde.

Tings Chak und Vijay Prashad sind Mitarbeiter des Tricontinental-Instituts in Neu-Delhi und Redakteure der internationalen Ausgabe von Wenghua Zongheng – A Journal of Contemporary Chinese Thought. Teil zwei des Beitrags folgt in der kommenden Ausgabe. Es handelt sich um eine gekürzte Fassung.

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    • Leserbrief von Wieland König aus Neustadt in Holstein (1. Oktober 2024 um 17:28 Uhr)
      Langsam wird es etwas unerträglich. Der Chefkommentator fürs Auswärtige in der Leserbriefrubrik der jungen Welt hat gesprochen, hugh! Lieber Herr Hidy, wie kann man nur so überheblich und abgehoben sein, den Chinesen für ihren 75jährigen, erfolgreichen Weg eine solche arrogante Einschätzung zu verpassen. Ich war in den vergangenen Jahren mehrfach in China und kann nur bestätigen, dass sich China auf einem sozialistisch unorthodoxen, aber nichts desto weniger erfolgreichen sozialistischen Weg befindet. China ist hoch angesehen in der Welt und erzielt trotz widriger äußerer Umstände seine Erfolge, auch trotz und gegen großdeutsche Belehrungen von »Wirtschaftsexperten« und »Menschenrechtsspezialisten«. Der Nabel der Welt befindet sich Gott sei dank nicht in Stuttgart.
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (2. Oktober 2024 um 12:09 Uhr)
        Lieber Herr König, wenn man Ihre Zeilen liest, scheint der Nabel der Welt tatsächlich nicht in Stuttgart, sondern in Neustadt in Holstein zu liegen. Mit meinem Titel »Der Glanz des Kapitalismus im Schatten des «Potemkin’schen Kommunismus»« wollte ich keineswegs die wirtschaftlichen Erfolge Chinas in Abrede stellen – im Gegenteil, ich habe sie damit bestätigt. Warum Sie jedoch weiterhin an der Überzeugung festhalten, dass China ein sozialistisches Land sei, bleibt mir ein Rätsel. Weder Vietnam noch Nordkorea erfüllen die Kriterien eines Sozialismus – allenfalls auf dem Papier. Kuba könnte sich aktuell vielleicht noch sozialistisch nennen, ist jedoch auch kein überzeugendes Aushängeschild dafür. Ich stimme Ihnen zu, dass China weltweit hohes Ansehen genießt und trotz widriger äußerer Umstände beachtliche Erfolge erzielt – auch im Widerstand gegen großdeutsche Belehrungen von »Wirtschaftsexperten« und »Menschenrechtsspezialisten«. Dennoch ändert das nichts an meiner Kritik: China wird sich langfristig mit den Widersprüchen des Kapitalismus, der kommunistischen Ideologie und der demografischen Krise konfrontiert sehen – Herausforderungen, die nicht einfach gelöst werden können.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (1. Oktober 2024 um 09:11 Uhr)
    Leider fehlt eine Einordnung des sowjetisch-chinesischen Schismas, ebenso wie die unwiderlegbare Tatsache, dass die SU China seit den 30er Jahren eine erhebliche und allumfassende technische Unterstützung hat zukommen lassen. Die relativ kurzfristige Entwicklung von Industrie wie Militär wäre ohne diese eigentlich nicht denkbar gewesen. Ich behaupte, dass dieses Schisma der Anfang vom Ende des Weltsozialismus war und in seiner Bedeutung bis heute unterschätzt wird. Nicht umsonst konnten die USA in diese Bresche springen und so u. a. die SU einzeln totrüsten.

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