»Wir ziehen die DDR unter dem Lügenberg hervor«
Interview: Marc BebenrothZum »Tag der deutschen Einheit« wird die mobile Ausstellung Ihres Vereins am Donnerstag in Erfurt eröffnet. Warum haben Sie sich für dieses Datum die thüringische Landeshauptstadt ausgesucht?
Berlin ist immer relativ sicheres Hinterland, wir wollen aber an den Brennpunkt. Eine faschistische Partei aus dem Westen instrumentalisiert die Geschichte der DDR und reitet auf der Wut der Leute an die Macht. Wir haben schon vor Jahren deswegen die Kampagne »Ossis gegen rechts«, OGr, ins Leben gerufen und nun 20 Seiten Broschüre ins Herz und auf die Fresse geschrieben. Das alles, die Ausstellung und wir sind in Erfurt am richtigen Platz. Hier prallen die Dinge selbstverständlich dramatisch aufeinander: DDR – Nazis – Ostdeutschland – AfD. Thüringen ist eine Region, die ein Lied singen kann von der sogenannten Wiedervereinigung.
Worüber können sich die Erfurterinnen und Erfurter sowie Gäste der Stadt bis zum 12. Oktober auf dem Anger informieren lassen?
Wir bieten ihnen einen Blick in die Geschichte der DDR, jedoch nicht wie sonst über Kimme und Korn. Wir schauen uns an, was die Menschen in der SBZ/ DDR Gigantisches geleistet haben, warum sie die Sachen so gemacht haben und wer dagegen stand. Wir ziehen ökonomisch Bilanz und die DDR unter dem Lügenberg hervor. Wir nehmen auch das Ende der DDR ins Brennglas. Den Feld- und Beutezug der BRD mit ihrer Waffe Treuhand auf das ihr verhasste Korrektiv DDR.
Wie groß war dieses Mal der Aufwand, die Erlaubnis für den Aufbau der Ausstellung zu bekommen?
Also man kann schon sagen: Nichts ist schlimmer als die Berliner Behörden. Erfurt war wie Dresden machbar, auch wenn so eine Anmeldung ein Full-time-Job ist und graue Haare macht. Und doch zeigt sich, dass dieses verrottete Staatswesen auf allen Ebenen, wenn’s um Soziales und Verwaltung geht, am absoluten Limit ist und im Grunde nur noch Ruinen verwaltet werden. Diesmal ging’s gut, wir schauen mal …
Die Broschüre sei »für den Osten und gegen seine falschen Freunde«. Das Cover zeigt die Gesichter ehemaliger und aktueller AfD-Prominenz. Von Meuthen über Weidel und Höcke bis Kalbitz. Warum braucht es dieses »Manifest« von antifaschistischen Ostdeutschen?
Die Geschichte der DDR, wie sie wurde, war und zerstört wurde, ist der Hebelpunkt im Osten. Wer fortschrittliche Veränderung will, muss sie verteidigen und denen entreißen, die Zustände schaffen wollen, gegen die die DDR gegründet wurde. Die AfD ist heute damit noch erfolgreicher als die CDU 1990. Wir, die wir kein Bock auf die Rechten haben und gegen diese BRD, gegen diesen Anschluss stehen, müssen gemeinsam sagen: »AfD? So sind wir nicht!«
Diese Themen haben wir immer vor uns hergeschoben. Mal abgesehen von der OGr-Kampagne. Auch, weil es weh tut und wir natürlich enttäuscht sind. Aber das ist der Magen. Im Kopf ahnten wir schon, welche Mechanismen da wirken. Jetzt haben wir uns auf den Arsch gesetzt und die Sachen nachgearbeitet: die Diffamierung der DDR, die Beschimpfung der Ossis als Nazi, aber auch den tatsächlichen massiven Rechtsruck im Osten zeitlich sortiert und mal hinter die Schlagzeilen geschaut. Was war die Ausgangssituation nach dem Anschluss? Welche Rolle hatten rechte Strukturen Westdeutschlands, welche Rolle hatte die BRD? Außerdem haben wir uns die AfD vorgenommen: Wo kommt sie her, wo will sie hin, wen vertritt sie? Aber klar, wir haben den Leuten im Osten auch mal eingeschenkt und geschaut, was aus uns Ossis geworden ist und warum.
Nach drei Landtagswahlen im Osten, bei denen die AfD deutlich an Stimmanteilen zulegen konnte, gelang dies mit der FPÖ auch dem österreichischen Pendant bei der Nationalratswahl am Sonntag. Was erklärt vor dem Hintergrund des europäischen Rechtsrucks aus Ihrer Sicht den Ausgang der Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg?
Österreich, Frankreich und nicht zuletzt der Siegeszug der Rechten in den USA zeigen auf jeden Fall auf, dass am Ende nichts dran ist an der verlogenen Formel, wonach die Sozialisierung der DDR den Rechtsruck zu verantworten hat. Oder hatten Franzosen und die Leute in den Vereinigten Staaten auch ’ne DDR nebenan?
Ringo Ehlert ist aktiv im Verein »Unentdecktes Land«, der Wissen über die DDR als »antifaschistisches Korrektiv« bewahrt und weitergibt
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http://www.spurensicherung.org/texte/Band1/Inhalt1.htm »Wege in die DDR«
http://www.spurensicherung.org/texte/Band2/Inhalt2.htm »Zeitzeugen zum 17. Juni 1953« http://www.spurensicherung.org/texte/Band3/Inhalt3.htm »Leben in der DDR«
Im Gegensatz zu diesem Interview finde ich den Artikel von N. Popp in der jW-Beilage zum 45. Jahrestag der DDR enttäuschend, da die vorhandenen Widersprüche als quasi gleichwertig dargestellt werden, obwohl die Befragung früherer Bürger eindeutig ergab, dass dies keineswegs zutrifft. Es ist eine Schande, wenn selbst prominente »Linke« über die vormalige Existenz der DDR am liebsten schweigen, sofern sie sich nicht gleich dem verlogenen Geschwafel von Politik und Medien unterwerfen. Deren bestenfalls Minimalzugestähdnis »Die DDR war grundsätzlich schlecht, aber es war natürlich nicht alles schlecht« setze ich entgeggen »Die DDR war grundsätzlich gut, aber es war natürlich nicht alles gut«. Siehe auch:
www.spurensicherung.org/texte/Band1/Inhalt1.htm
www.spurensicherung.org/texte/Band2/Inhalt2.htm www.spurensicherung.org/texte/Band3/Inhalt3.htm
Ursula Münch (Jg. 1929)