Neuer Kriegsschauplatz Taiwan
Von Jörg Kronauer»Wir schreiben das Jahr 2028«: Der European Council on Foreign Relations (ECFR), eine Denkfabrik mit Büros in sieben europäischen Hauptstädten und in Washington, riskiert einen gewagten Blick in die Zukunft. Es geht um Taiwan. Der ECFR, so das Szenario, nimmt fiktiv an, »westliche Geheimdienste« seien »zu einem alarmierenden Schluss« gelangt. »Glaubwürdige Quellen legen nahe, China sei gerade dabei, eine Seeblockade gegen Taiwan zu etablieren – ein Schritt, von dem Nachrichtendienstler meinen, er gehe einer kompletten Invasion des Inselterritoriums voraus.«
Überlegungen, wie eine Eskalation des Konflikts um Taiwan aussehen könnte und welche Handlungsoptionen sich dabei für die Regierungen im Westen ergäben, die die Insel als eine Art strategischen Vorposten gegen die Volksrepublik nutzen, werden bereits seit geraumer Zeit immer wieder angestellt. Dabei werden Kriegsszenarien nicht mehr nur abstrakt diskutiert, sie werden in sogenannten War games von Strategen konkret durchgespielt. Für sie proben die Streitkräfte vor allem Taiwans, der USA, Japans, aber auch anderer Staaten – speziell NATO-Mitglieder –, für sie rüsten die erwähnten Länder längst auch in hohem Tempo auf. Intensiv diskutiert wird die Möglichkeit einer Blockade Taiwans durch China. Die chinesischen Streitkräfte probten diese Option etwa, als die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, Taiwan im August 2022 besuchte und Beijing damit ganz gezielt provozierte.
»Quarantäne«-Variante
Inzwischen haben sich westliche Strategen neben einem direkten Krieg und einer Seeblockade noch eine weitere Variante vorgenommen, die sie unter dem Begriff »Quarantäne« debattieren. Denn China könne, so heißt es, aufgrund der Eskalationsgefahr von einer militärisch durchgesetzten Blockade Taiwans Abstand nehmen. Statt dessen könne es den kompletten Schiffsverkehr nach und von Taiwan mit seiner Küstenwache kontrollieren und ihn damit faktisch lahmlegen. Aus der Luft gegriffen ist das nicht – an chinesischen Manövern rings um Taiwan haben zuletzt auch Schiffe der chinesischen Küstenwache teilgenommen und gelegentlich Operationen zur Kontrolle fremder Handelsschiffe geübt. Aus Sicht Beijings bestünde der Vorteil eines solchen Vorgehens darin, dass eine offene militärische Eskalation weniger wahrscheinlich wäre als bei einer umfassenden Blockade, dass aber dennoch empfindlicher Druck auf Taiwan ausgeübt werden könnte.
Wie sollen sich die Staaten Europas verhalten, wenn der Konflikt um Taiwan eskaliert? Mit dieser Frage befasst sich der ECFR in der erwähnten, Mitte September publizierten Studie. Darin klammert er die militärische Ebene – die Frage, wann und wie der Westen in einen Krieg um Taiwan gegen China eintreten soll – ganz bewusst aus. Er befasst sich statt dessen mit dem Wirtschaftskrieg, den die Staaten Europas vermutlich entfesseln würden, sollten sich die Auseinandersetzungen um Taiwan zuspitzen. Dabei rät er, aus den Erfahrungen zu lernen, die man mittlerweile mit Sanktionen gegen allerlei Staaten gesammelt habe – besonders den Erfahrungen mit den Russland-Sanktionen.
Eine Lehre aus den Maßnahmen gegen Russland, schreibt der ECFR, dass der Versuch, ein Land einfach komplett aus dem globalen Finanzsystem auszusperren, nicht die gewünschte Wirkung entfalte. Staaten, die sich im Konflikt mit dem Westen befänden, hätten längst begonnen, westliche Währungsreserven abzustoßen. Vor allem China komme im Bemühen, sich auch im globalen Handel vom US-Dollar zu lösen und alternative Zahlungssysteme zu entwickeln, gut voran. Allein mit Finanzsanktionen werde man die Volksrepublik kaum entscheidend schwächen können.
Sanktionen gegen China
Vielmehr rät der ECFR, sich die Tatsache zunutze zu machen, dass Europa für die chinesische Exportwirtschaft ein äußerst wichtiger Absatzmarkt ist. Die EU und die jenseits Europas gelegenen G7-Mitglieder zusammengenommen, kauften nahezu 40 Prozent aller chinesischen Exporte. Allein davon hingen wohl ungefähr 45 Millionen Arbeitsplätze in der Volksrepublik ab. Es stimme natürlich, dass auch die europäische Industrie auf Importe aus China angewiesen sei. Doch könne man beispielsweise auf Konsumgüter aus China – elektronische Geräte etwa, Textilien –, die immerhin 30 Prozent der Einfuhren ausmachten, leicht verzichten. Wichtig sei, dass man mit Sanktionen »hart und schnell« zuschlage, so der ECFR. Bei Russland habe man das nicht genügend getan und Moskau immer wieder Chancen eröffnet, Alternativen zu finden. Das dürfe in einem Wirtschaftskrieg gegen China nicht geschehen.
Und die Probleme, die das der europäischen Industrie bereitet? Schließlich weiß man, dass der Versuch, ohne russisches Erdgas auszukommen und auf US-Flüssiggas umzusatteln, nicht zuletzt der deutschen Industrie gravierenden Schaden zugefügt hat. Das China-Geschäft ist für die deutsche Wirtschaft weitaus wichtiger als das mit Russland. Und anzunehmen, dass Beijing Sanktionen ohne weiteres akzeptieren und nicht seinerseits dort zurückschlagen würde, wo es Europa besonders weh tut, wäre naiv. Doch auch dafür hat der ECFR Rat bereit.
Einerseits werde man einige besonders schmerzhaft getroffene Unternehmen durchfinanzieren müssen, räumt die Denkfabrik ein. Andererseits werde man das zahlende Publikum bei Laune halten müssen. Dass in Europa die Meinung Zulauf finde, die Russland-Sanktionen schadeten der eigenen Seite – und das womöglich sogar mehr als dem Gegner –, sei ein höchst bedauerlicher Missstand, den man bei etwaigen künftigen China-Sanktionen dringend verhindern müsse. Es gelte also, entschieden gegen »Desinformation« vorzugehen, die Beijing nicht weniger als Moskau zu verbreiten versuchen werde. Dazu solle die EU-Kommission eine Stelle gegen »sanktionenbezogene Desinformation« schaffen. Den Wirtschaftskrieg an der Heimatfront verlieren – das will sie ja wohl kaum.
Hintergrund: Ein-China-Prinzip
Wie verhindert man einen Krieg um Taiwan? Bislang waren sich China und die Vereinigten Staaten in einem einig: indem man zumindest Taiwans Status wahrt. Der besagt, dass auch weiterhin das Ein-China-Prinzip anerkannt wird, demzufolge es nur einen chinesischen Staat gibt. Beijing und Taipeh stimmen nur nicht überein, wer von ihnen diesen Staat repräsentiert. Die sprachlichen Formeln, die beide Seiten in diesem Kontext verwenden, sind hochgradig ausdifferenziert. Schon kleinere Abweichungen können deshalb große Bedeutung haben. Eine der gängigen Formeln besteht etwa darin, von »beiden Seiten der Taiwanstraße« zu reden anstatt von der Volksrepublik und der Republik China, wie Taiwan sich nennt. Das tat auch noch Taiwans bis zum 20. Mai amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen.
Tsais Nachfolger Lai Ching-te hatte nach seinem Wahlsieg im Januar zunächst suggeriert, sich im Hinblick auf Taiwans Status im bisher üblichen Rahmen bewegen zu wollen. Zudem war Chinas Präsident Xi Jinping bemüht – darauf hat vor einigen Tagen die International Crisis Group hingewiesen, ein multinationaler, prowestlicher Thinktank –, ihm Brücken zu bauen. So äußerte er, man könne, anstatt vom Bestand nur eines chinesischen Staates zu reden, locker erklären, »beide Seiten der Taiwanstraße« seien »chinesisch und eine Familie«. Lai ging nicht darauf ein und brach in seiner Antrittsrede mit allen Konventionen, als er der Volksrepublik die »Republik China« als unabhängige Einheit gegenüberstellte. Wenig später sprach er in einer Rede an Taiwans Militärakademie von der Verteidigung der Bevölkerung »in Taiwan, Penghu, Kinmen und Matsu«; die letzteren drei sind Inselgruppen, die von Taipeh kontrolliert werden. Implizit kratzte Lai mit der Formulierung stark am Ein-China-Prinzip.
Selbst die International Crisis Group warnt inzwischen, Lai verschärfe mutwillig die Spannungen. Das ist brandgefährlich: Wird eine Wiedervereinigung unmöglich, behält sich Beijing militärische Schritte vor. Dem Punkt, an dem das erreicht ist, nähert sich Lai, dabei stets vom Westen unterstützt, ganz bewusst an. (jk)
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