China bleibt sozialistisch
Von Tings Chak und Vijay PrashadIst China zu einem kapitalistischen Land geworden? Privates ausländisches Kapital kam zunächst aus der chinesischen Diaspora, dann aus Ländern Ostasiens, allen voran Japan, und schließlich aus dem Westen. Dabei beharrte China darauf, dass auch Wissen und Technologie transferiert werden, was eine Grundlage für das starke Wachstum in den entsprechenden Sektoren bildete. Die Volksrepublik setzte dem Kapital weitere Grenzen, indem es sich an ihre Wirtschaftsplanung halten musste und nicht soviel Gewinn ins Ausland abführen durfte, wie es wollte. Auf dem »langen Marsch« der chinesischen Revolution wurden so seit 1978 hohe Wachstumsraten (fast zehn Prozent jährlich) erzielt, die absolute Armut vor drei Jahren abgeschafft, der Konsum gesteigert und die Bildung gefördert. Die Kette der Abhängigkeiten vom Ausland wurde dadurch allerdings nur geschwächt, nicht durchbrochen, und die Reformperiode brachte ihre eigenen Probleme mit sich – wie etwa eine zunehmende Ungleichheit.
Tiger und Fliegen
34 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik erklärte der damalige Vorsitzende der KPCh, Hu Jintao, auf dem 18. Nationalkongress 2012, dass die Korruption zu einem Schlüsselthema geworden sei. »Wenn wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen«, warnte er, »könnte es sich als fatal für die Partei erweisen und sogar ihren Zusammenbruch und den Untergang des Staates verursachen.« Auf diesem Kongress wurde Hu von Xi Jinping abgelöst, der als erste Amtshandlung dieses Problem anging. In seiner Antrittsrede als Parteivorsitzender verpflichtete sich Xi, »Tiger und Fliegen mit einer Klappe zu schlagen«, womit er sich auf die Korruption bezog, die sich von den hohen Rängen bis hinunter zur Basis ausgebreitet hatte. Die Partei führte »Acht-Punkte-Maßnahmen« ein, um Praktiken wie belanglose Treffen und extravagante Empfänge einzuschränken. Bis Mai 2021 wurde die Arbeit von insgesamt mehr als vier Millionen Kadern und Beamten überprüft, von denen 3,7 Millionen von der Zentralen Kommission für Disziplinaraufsicht belangt wurden. Mindestens 43 Mitglieder des Zentralkomitees und sechs Mitglieder des Politbüros wurden wegen Korruption bestraft, darunter ehemalige Minister, Provinzgouverneure und die Präsidenten der größten staatlichen Banken.
Xis Worte und Taten gegen die korrupten »Fliegen und Tiger« trugen dazu bei, das Vertrauen der chinesischen Bevölkerung in die Regierung zu stärken. Laut einer Studie der Harvard University aus dem Jahr 2020 liegt die Zustimmung zur Zentralregierung bei 93,1 Prozent, wobei der größte Zuwachs in den weniger entwickelten Regionen auf dem Land zu verzeichnen ist. Dieser Anstieg des Vertrauens in den ländlichen Gebieten ist auf die Verbesserung der sozialen Dienste, das Vertrauen in die lokalen Beamten und die Armutsbekämpfung zurückzuführen.
Bevor Washington 2018 seinen Handelskrieg gegen die Volksrepublik begann, war das Vertrauen in Ländern wie China, Indien und Brasilien in die USA und ihre wirtschaftliche Führungsrolle als »Käufer letzter Instanz« im Anschluss an die 2007 einsetzende große Depression bereits verloren. Das brachte China auf einen Weg, der vom Westen abweicht, indem es 2013 das Projekt der »Neuen Seidenstraße« initiierte und 2023 das Konzept der »Produktivkräfte neuer Qualität« entwickelte. Das erste Vorhaben zeigt das Interesse Chinas am Aufbau neuer Märkte abseits der USA und Europas, aber auch daran, die Länder des globalen Südens zu unterstützen. Das zweite Konzept zielt darauf ab, dass China »die Entwicklung strategischer neuer Industrien und Zukunftsindustrien anführt«, wie Xi es 2023 ausdrückte.
Drei Berge
Der Handelskrieg mit den USA hat die chinesische Wissenschaft unter Druck gesetzt, in neuen Bereichen wie künstliche Intelligenz, Biomedizin, Nanotechnologie und der Herstellung von Computerchips voranzukommen. Zwei Beispiele für die rasanten Fortschritte sind, dass Chinas Digitalwirtschaft 2022 ganze 41,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgemacht hat, wobei die Abdeckung mit dem 5G-Mobilfunknetz 2023 mehr als 50 Prozent betrug. Dabei hat die Regierung in den vergangenen Jahren energisch Maßnahmen getroffen, um eine »ungeordnete Expansion des Kapitals« einzudämmen, wobei sie insbesondere Big-Tech-Monopole oder Immobilienspekulation im Blick behielt. Gleichzeitig wurde der Schwerpunkt verstärkt auf die Abtragung der »drei Berge« gelegt, mit denen die chinesische Bevölkerung konfrontiert ist: den hohen Kosten für Bildung, Wohnen und Gesundheit.
Die chinesische Revolution ist ein Prozess, der weiter andauert. Sie ist unvollendet, weil die Geschichte weitergeht und es viele Probleme zu lösen gibt. Auch die Beziehung Chinas zum übrigen globalen Süden ist neu zu definieren, der nach dem völligen Scheitern des Kürzungs- und Verschuldungskonzepts des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nach einer neuen Entwicklungsarchitektur sucht. Die Tatsache, dass China in der Lage war, die Armut zu beseitigen und gleichzeitig eine fortschrittliche Technologie zu entwickeln, zeigt, dass es unter der Führung der KPCh das Gleichgewicht zwischen Investitionen und Konsum gut im Griff hatte. Dank seiner Stabilität und Stärke ist die Volksrepublik nun in der Lage, sich in der Welt zu engagieren und eine Führungsrolle auch bei der Beilegung bisher ungelöster Konflikte wie z. B. zwischen Iran und Saudi-Arabien und in Palästina zu übernehmen.
Dies ist ein guter Zeitpunkt, um nach 75 Jahren zurückzublicken und Maos Rede aus dem Jahr 1954 zu studieren, in der er betonte, dass China eine unabhängige Wissenschaft und Technik, Geduld und Demut brauche. 2021, mit der Beseitigung der extremen Armut und zum 100. Jahrestag der Gründung der KPCh, konnte China sein »erstes Hundertjahrziel« erreichen, »eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand« – in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen. Jetzt ist die Volksrepublik auf dem Weg, ihr zweites Hundertjahrziel zu erreichen, nämlich bis 2049 zum 100. Jahrestag ihrer Gründung »ein modernes sozialistisches Land aufzubauen, das wohlhabend, stark, demokratisch, kulturell fortgeschritten und harmonisch ist«.
Die Autoren arbeiten beim Tricontinental-Institut in Neu-Delhi und sind Redakteure von Wenghua Zongheng – A Journal of Contemporary Chinese Thought. Der erste Teil ist in der jungen Welt vom 1. Oktober unter dem Titel »Chinas langer Atem« erschienen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (3. Oktober 2024 um 23:03 Uhr)China ist eine hybride Gesellschaft, die sowohl sozialistische als auch kapitalistische Merkmale in sich vereint. Während es unter der KPCh offiziell einen sozialistischen Anspruch erhebt, zeigen viele seiner wirtschaftlichen Strukturen und Praktiken deutliche kapitalistische Züge. Ob China in der Lage ist, diese Widersprüche langfristig zu bewältigen, bleibt fraglich und offen. Die zunehmenden Ungleichheiten und die demographischen Defizite sind Herausforderungen, die den sozialistischen Charakter Chinas weiter auf die Probe stellen werden. Es könnte sich als schwierig erweisen, diesen ideologischen und wirtschaftlichen Spagat aufrechtzuerhalten, ohne dass das System an den Widersprüchen enormen Schwierigkeiten sich verschleißt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (2. Oktober 2024 um 22:51 Uhr)Die in diesem hilfreichen Artikel dargestellte Entwicklung Chinas fällt hoffentlich nicht zu positiv aus. Speziell die Konzepte und der Verlauf der »Abtragung der drei Berge« verdienen genaue Beobachtung und unvoreingenommene Untersuchung.
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