Führungswechsel in Tokio
Von Igor Kusar, TokioEin Reformer und Außenseiter ist neuer Premierminister Japans. Der 67jährige Ishiba Shigeru wurde von der regierenden konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) Freitag vergangener Woche zum Vorsitzenden gewählt und am Dienstag im Parlament zum obersten Politiker Japans erkoren. Der große Kritiker des früheren Premiers Abe Shinzō will die stetige Militarisierung Japans nicht ändern und eher noch beschleunigen. Auf anderen Gebieten jedoch warten große Herausforderungen auf ihn. Dies zeigte sich bereits am vergangenen Montag, als der japanische Aktienindex Nikkei 225 um stolze 4,8 Prozent einbrach. Die Anleger befürchteten, Ishiba werde seine Ankündigung, die Kapitalertragssteuer zu erhöhen, wahr machen.
Ehrgeizige Ziele
Beim Parteiwahlkampf, der mit viel undurchsichtigem Geschiebe zu Ende ging, war vorerst von Erneuerung nicht viel zu sehen. Das Kriterium für die Wahl war diesmal einfach: Der Sieger soll die krisengeschüttelte LDP erfolgreich durch die am 27. Oktober stattfindenden Unterhauswahlen – am vergangenen Montag von Ishiba anberaumt – lotsen. Zuerst traute dies die LDP am ehesten dem telegenen 43jährigen Neoliberalen Koizumi Shinjirō zu, der in der Bevölkerung sehr beliebt ist. Doch dieser verspielte seinen Anfangsbonus mit der Ankündigung, er wolle den Arbeitsmarkt flexibler gestalten. Zwar ruderte er nach der nicht enden wollenden Empörung zurück, doch da war der Schaden schon angerichtet.
Danach galt der liberalkonservative Ishiba als Favorit, obwohl er in der Partei nicht beliebt ist. Er hat den Ruf eines Intellektuellen, der sich mit seiner logischen Argumentationsweise bei seinen Kollegen keine Sympathien erwirbt. Wenig später wurde die Hardlinerin und politische Abe-Erbin Takaichi Sanae als aufsteigender Stern gehandelt. Bald jedoch wurden Bedenken laut. Mit ihrer Ankündigung, sie würde auch nach einem Sieg dem symbolträchtigen Yasukuni-Schrein für die Kriegstoten ihre Aufwartung machen, verprellte sie die USA. Beobachter in Tokio malten bereits einen aufziehenden Krieg gegen China an die Wand. Schließlich entschied sich die LDP im Eliminationsverfahren für das für sie »kleinste Übel«: In der entscheidenden zweiten Wahlrunde setzte sich Ishiba knapp vor Takaichi durch.
Ishibas Ziele sind ehrgeizig. Er will ein gerechteres und sicheres Japan schaffen und gleichzeitig das Land nach außen hin stärker und unabhängiger machen. Sein Wirtschaftsprogramm bezeichnen einige Beobachter als Anti-Abenomics – letztere wurden von Abe initiiert. Dieser hatte vor allem die Wohlhabenden und die Städte gefördert. Ishiba will den Spieß umdrehen, ländliche Präfekturen wirtschaftlich stärken und die Kluft zwischen Arm und Reich verringern. Möglichst schnell soll der Mindestlohn steigen. Außerdem will Ishiba die Unternehmenssteuer für große Firmen erhöhen. In der Außenpolitik will er Japan unabhängiger von den USA machen und beispielsweise die vielen Rechte der US-Truppen in Japan neu verhandeln. Angedacht hat er auch die Bildung einer asiatischen NATO. Obwohl er sich damit in Beijing keine Freunde macht, wird erwartet, dass er gegenüber China eine moderate Linie fährt.
Zerreißprobe droht
Doch der Weg zur Umsetzung seiner Ziele wird mehr als steinig werden. Seine Machtbasis in der Partei ist sehr klein. Vor allem am Anfang seiner Amtszeit wird er eng mit seinen Vorgängern Kishida Fumio und Suga Yoshihide, die ihn im zweiten Wahlgang unterstützten, zusammenarbeiten müssen. Kishida hat bereits angedeutet, dass er eine enge Kooperation Ishibas mit den USA begrüßen würde.
Ein Lackmustest für Ishibas Entschlossenheit zu Reformen wird seine Handhabe des Spendenskandals sein, der seit fast einem Jahr die Öffentlichkeit beschäftigt. Ishiba steckt dabei in einem Dilemma: Die Bevölkerung erwartet, dass er die involvierten fast 90 LDP-Parlamentarier härter anfasst als sein Vorgänger Kishida. Viele in der LDP selbst sehen den Fall jedoch als erledigt an. Ein hartes Vorgehen Ishibas könnte die Partei zerreißen. Beobachter in Tokio erwarten deshalb, dass Ishiba auch bei anderen Themen anfangs vorsichtig agieren wird. Genau dies zeigte sich bereits bei der Zusammensetzung des Kabinetts, die keine Überraschungen bot. Nur ein Sieg bei den Unterhauswahlen könnte ihm mehr Spielraum geben. Der Weg zu Reformen ist in Japan stets mit Stolpersteinen gepflastert. Für Ishiba ist Vorsicht geboten, ansonsten wird seine Amtszeit eher kurz.
Hintergrund: Schwache Opposition
Im Schatten des Parteiwahlkampfs der LDP veranstaltete auch die größte Oppositionskraft, die linksliberale Konstitutionell-Demokratische Partei (KDP), die Wahl ihres neuen Parteichefs, über den am 23. September abgestimmt wurde. Der bisherige Vorsitzende Izumi Kenta (50) galt als langweilig und profillos und geriet vor allem nach der verlorenen Gouverneurswahl in Tokio, bei der die Partei die Oppositionspolitikerin Renhō unterstützt hatte, intern in die Kritik. Doch der KDP fehlt es an jungem, attraktivem Personal. Deshalb mussten zwei ältere Politiker in die Bresche springen, die man eigentlich schon abgeschrieben hatte: Noda Yoshihiko (67), von 2011 bis 2012 Premierminister für die Vorvorgängerpartei DPJ, und Edano Yukio (60), der Gründer der KDP. Beide sind Verlierer wichtiger Wahlen gewesen, Noda hatte mit seinem unglücklichen Agieren 2012 die Wahl des langjährigen Premiers und Falken Abe ermöglicht. Er gehört in der Partei dem konservativen Flügel an, Edano dem liberalen.
Schließlich setzte sich Noda in einem flauen Wahlkampf gegen drei Widersacher durch. Den Ausschlag gab seine Erfahrung als ehemaliger Premier. Außerdem will die KDP durch seine Wahl konservative Wähler, die sich von der krisengeschüttelten LDP abgewandt haben, für sich gewinnen. Durch Noda als Parteichef vollzieht die KDP einen Rechtsruck. Dieser wird Mühe haben, dem Wahlvolk die inhaltlichen Unterschiede zur LDP zu erklären, zumal er bei den bisherigen politischen Markenzeichen der KDP Fragezeichen setzt. Vor allem die Streichung der Sicherheitsgesetze, die 2015 die kollektive Selbstverteidigung ermöglichten und Japan in einen Krieg an der Seite der USA führen könnten, bezeichnet Noda auch nach einem Machtwechsel nicht mehr als erste Priorität. Auch der Ausstieg aus der Atomkraft soll nicht mehr »möglichst schnell« vollzogen werden.
Vor allem der erste Punkt war bisher der Kitt, der die Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei (KPJ) ermöglichte. Diese wird beim jetzigen Stand der Dinge in der bisherigen Form kaum mehr möglich sein. Vielmehr sucht Noda die Kooperation mit der neoliberalen Nippon Ishin no Kai und der Demokratischen Volkspartei, einer Mittepartei. Doch die Gespräche erweisen sich als äußerst zäh. Und ohne Zusammenarbeit der Oppositionsparteien bei den nächsten Unterhauswahlen ist ein Machtwechsel illusorisch. So bleiben Noda bei seiner Kritik an der LDP vor allem der Spendenskandal und die Wirtschaftspolitik. Ob das genügt, um Wahlen zu gewinnen, ist fraglich. Umfragen zeigen, dass die LDP auch in angeschlagenem Zustand noch weit vor der KDP rangiert. (ik)
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