Auch Reiche sollen zahlen
Von Hansgeorg HermannMit seiner Regierungserklärung schien sich Frankreichs neuer Premier Michel Barnier als harmloser Erfüllungsgehilfe seines Staatschefs Emmanuel Macron zu präsentieren. Eineinhalb Stunden umwarb er am Dienstag in der ersten Plenarsitzung nach der Wahl vom 7. Juli die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung mit warmen Worten – »weniger Texte, mehr Debatten« und ein bisschen Respekt für einen einsamen Regierungschef ohne parlamentarische Mehrheit. Doch schon tags darauf, als erste Einzelheiten des Haushaltsentwurfs für 2025 bekanntwurden, den Barnier am kommenden Donnerstag vorstellen muss, erlebte Frankreich einen anderen Ministerpräsidenten: Barnier will den Schuldenberg abbauen, den sein Vorgänger Gabriel Attal und dessen Finanzminister Bruno Le Maire hinterließen, und ein bisher noch offenes Loch in Höhe von rund 16 Milliarden Euro im Haushalt 2024 stopfen.
Das Defizit, das Macrons Steuergeschenke an die Großkonzerne seit 2017 aufbauten, will Barnier durch Steuererhöhungen und Kürzungen in den kommenden drei Jahren wieder abbauen – falls er so lange Regierungschef bleiben darf. 60 Milliarden Euro will sich Barnier zurückholen – 20 Milliarden sollen die Steuererhöhungen bringen, 40 Milliarden sollen bei den öffentlichen Diensten »eingespart« werden. Die Gesamtsumme entspricht in etwa dem Verlust an Einnahmen, dessen Ursache der staatliche Rechnungshof im vergangenen Juli in seinem Jahresbericht Macrons katastrophaler Politik der Steuergeschenke zuwies. Der Staatschef, verfangen in seiner neoliberalen Wirtschaftsideologie, ließ die Steuersätze für Unternehmen von 33,3 auf 25 Prozent senken; er setzte eine »Flat tax« von 30 Prozent auf Einnahmen aus Dividenden und Kapitalzinsen durch; die Vermögensteuer strich er gänzlich und ersetzte sie durch eine Immobiliensteuer. Unter dem Strich Mindereinnahmen in Höhe von 62 Milliarden Euro, wie der Rechnungshof analysierte.
Wie Barnier sein am Dienstag versprochenes »ernsthaftes Engagement« für die Sozialdienste und den staatlichen Schulbetrieb bezahlen will, bleibt zumindest bis Donnerstag sein Geheimnis. Pariser Tageszeitungen schworen die 68 Millionen Franzosen bereits auf eine »Sparpolitik« Barniers ein, die »alle betreffen« werde. Zwar versprach der Regierungschef am Dienstag, für »Steuergerechtigkeit« sorgen zu wollen und endlich die »Profiteure XXX« – Großkonzerne und Banken – an die Kandare zu nehmen, ihnen wenigstens eine Art mittelharte Beteiligung am Steueraufkommen zuzumuten. Doch die 40 Milliarden Euro schweren Kürzungen werden wohl, wieder einmal, zu Lasten eben jener Sozialdienste gehen, die laut Barnier künftig »effektiver arbeiten müssen«. »Effektiv« aber ist, nicht nur in Frankreich, nach allgemeiner Einschätzung ein anderes Wort für Stellenabbau. Rund 3.000 Lehrer fehlen derzeit in den Schulen des Landes, rund 280.000 meist junge Familien standen in den vergangenen Monaten auf der Warteliste für die Zuteilung einer bezahlbaren Sozialwohnung.
Nicht nur seine eigene politische Familie, die bürgerlich-rechten Les Républicains (LR), dürfte Barnier mit seiner Forderung nach Steuererhöhungen für die Reichen und Allerreichsten verprellen. Auch die extreme Rechte des Rassemblement National (RN), die mit ihren 143 Abgeordneten eine Sperrminorität hält und auf deren Duldung der Premier angewiesen ist, hat die Erhöhung von Steuern gleich welcher Art bisher strikt abgelehnt.
RN-Anführerin Marine Le Pen und mit ihr Fraktion und Partei schleppen gleichwohl ein Problem durch die Hallen der Nationalversammlung, das ihre Handlungsfähigkeit beeinträchtigen könnte. Seit vergangenem Montag muss Le Pen sich vor Gericht verantworten: Ihr und der RN-Gruppe im EU-Parlament, deren Vorsitzende sie bis zum Juni 2017 war, wird vorgeworfen, damals Geld für die Bezahlung nicht existierender Assistentenstellen eingestrichen zu haben. Sollte sie in diesem Prozess schuldig gesprochen werden, droht Le Pen der Verlust des passiven Wahlrechts. Sie könnte dann nicht zu den Präsidentschaftswahlen 2027 antreten, für die ihr Experten diesmal echte Siegchancen einräumen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (4. Oktober 2024 um 11:38 Uhr)Die erste Bewährungsprobe ist bestanden. Der neue französische Premierminister Michel Barnier hat seine Regierungserklärung abgegeben und sich einer Parlamentsbefragung gestellt. Das Schiff unter seinem Kommando nimmt also Fahrt auf. Doch es ist bereits absehbar, dass es bald in schwere See geraten wird. Ende des Monats steht die Budgetdebatte an. Zwar bestreitet in Frankreich kaum noch jemand, dass die laut Barnier »kolossalen« Schulden abgebaut werden müssen, doch über das ‚Wie‘ herrscht Uneinigkeit. Die Linke ruft: »Höhere Steuern für die Reichen!«, während die Rechte fordert: »Verschlankung der Bürokratie!« Barnier will diese Herausforderung mit einem für einen Konservativen überraschenden Spagat meistern. So plant er, die Steuern für »die Reichsten der Reichen« und einige große Konzerne zu erhöhen, wie sein Wirtschaftsminister präzisierte. Dies ist weniger ein Versuch, die Linke ins Boot zu holen – ein ohnehin aussichtsloses Unterfangen. Vielmehr treibt ihn die verzweifelte Suche nach Geld um, im Wissen, dass auch Sparprogramme in der Verwaltung kein leichtes Unterfangen sein werden. Der Staat werde mit gutem Beispiel vorangehen, versprach Barnier. Doch bislang bleibt unklar, wo die angekündigten 40 Milliarden Euro eingespart werden sollen.
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