Arbeitsreicher Neubeginn in Mexiko
Von Volker HermsdorfMexikos neue Präsidentin Claudia Sheinbaum, die das Amt am Dienstag von ihrem Vorgänger Andrés Manuel López Obrador übernommen hat, muss sich zu Beginn ihres sechsjährigen Mandats bereits mehreren Herausforderungen stellen. Am Tag nach ihrer Vereidigung flog sie nach Acapulco in dem an der Pazifikküste gelegenen Bundesstaat Guerrero. Dort und im benachbarten Staat Michoacán hatte Hurrikan »John« verheerende Schäden angerichtet. Dutzende Menschen kamen ums Leben, große Gebiete stehen unter Wasser. »Am wichtigsten sind die Versorgung mit Trinkwasser und die Wiederherstellung der Straßen«, erklärte Sheinbaum nach Gesprächen mit Rettungskräften und örtlichen Politikern. Sie wies die Mitglieder ihres Kabinetts an, sich »vorrangig um die Notlage und die Bedürfnisse der Bevölkerung« zu kümmern.
Auf ihrer ersten Pressekonferenz nach dem Amtsantritt hatte Sheinbaum am Mittwoch zuvor an das Massaker von Tlatelolco erinnert, das sich an diesem Tag zum 56. Mal jährte. Das war mehr als eine symbolische Geste. Sie erklärte, der Staat müsse sich bei den Familien der Opfer für dieses »Verbrechen gegen die Menschheit« entschuldigen. Angehörige des Militärs hatten am 2. Oktober 1968 das Feuer auf friedlich demonstrierende Studenten im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt eröffnet. Dabei wurden 350 Menschen getötet, 53 schwer verletzt und etwa 2.000 verhaftet.
Sheinbaum erinnerte daran, dass ihre Mutter die Studentenbewegung unterstützt hatte und deshalb als Lehrerin von ihrer Bildungseinrichtung verwiesen worden war. Am ersten Arbeitstag äußerte sich die neue Staats- und Regierungschefin auch zu internationalen Konflikten. Nach der iranischen Offensive gegen Israel und der Drohung Tel Avivs mit Vergeltungsmaßnahmen forderte ihre Regierung alle Parteien auf, »unverzüglich Maßnahmen zur Deeskalation des Konflikts zu ergreifen. Ein Waffenstillstand ist unabdingbar, um weiteren Schaden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden«, so das Außenministerium. »Ich bestehe auf der Notwendigkeit, einen dauerhaften Frieden auszuhandeln, der Stabilität in der Region ermöglicht«, erklärte Sheinbaum.
Die 62jährige Physikerin und Klimaexpertin, die wie ihr Vorgänger der sozialdemokratischen Nationalen Erneuerungsbewegung (Morena) angehört, steht – 500 Jahre nach der spanischen Eroberung und 200 Jahre nach Gründung der Republik am 4. Oktober 1824 – als erste Frau an der Spitze des bevölkerungsreichsten spanischsprachigen Landes auf dem amerikanischen Kontinent. An ihrer Amtseinführung im Präsidentenpalast hatten am Dienstag Delegationen aus 105 Ländern sowie zahlreiche Staats- und Regierungschefs teilgenommen.
Vor Zehntausenden jubelnden Anhängern stellte Sheinbaum danach ein 100 Punkte umfassendes Regierungsprogramm für die kommenden sechs Jahre vor. »Heute beginnt der zweite Abschnitt der vierten Transformation des öffentlichen Lebens in Mexiko«, erklärte sie auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt. Das von López Obrador initiierte Projekt der »Vierten Transformation« gilt als Fortsetzung der drei bedeutendsten historischen Prozesse des Landes. Dazu gehören die Unabhängigkeit von Spanien (1810–1821), erfolgreiche Reformen gegen konservative Kräfte (1858–1862) und die mexikanische Revolution (1911–1917). »Das Entwicklungsmodell des Landes wurde verändert, weg vom gescheiterten neoliberalen Modell und dem System der Korruption und Privilegien«, betonte Sheinbaum in ihrer Rede.
Die neue Präsidentin hat gute Voraussetzungen, diesen Kurs auch gegen die rechte Opposition und die ständigen Einmischungsversuche Washingtons fortsetzen zu können. Sie verfügt in beiden Kammern des Kongresses über eine Mehrheit und hatte sich bei der Wahl mit fast 60 Prozent gegen magere knapp 28 Prozent ihrer rechten Konkurrentin Xóchitl Gálvez überzeugend durchsetzen können. »In einer Welt im Umbruch bildet Mexiko im Norden zusammen mit Kolumbien unter Gustavo Petro und Brasilien unter Lula da Silva im Süden ein Dreieck der Hoffnung für die Region«, kommentierte das argentinische Onlineportal Tektónikos.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Gerhard M. aus Gerhard Mertschenk g.mertschenk@gmx.de (4. Oktober 2024 um 21:21 Uhr)Zur Amtseinführung der mexikanischen Präsidentin Claudia Sheinbaum am 1. Oktober 2024 entsandte die Bundesrepublik Deutschland als ihren offiziellen Vertreter den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, der derzeit allerdings keinerlei politische Funktion innehat. Weder ist er Abgeordneter des Bundestages, noch eines Landtages. Zur Amtseinführung wurden Staats- bzw. Regierungschefs eingeladen. Artikel 57 des Grundgesetzes legt fest, dass bei Verhinderung des Bundespräsidenten er vom Präsidenten des Bundesrates vertreten wird. Allgemein wird davon ausgegangen, dass an dritter Stelle des Protokolls der Präsident des Bundestages steht. An welcher Stelle stehen ehemalige Bundespräsidenten? Die Tätigkeit eines ehemaligen Bundespräsidenten beschränkt sich auf »nachwirkende Aufgaben«. Gehört dazu die Vertretung des Staates nach außen? Auf der Grundlage welches Gesetzes ist ein ehemaliger, ansonsten funktionsloser Bundespräsident offizieller Vertreter der Bundesrepublik? Es gibt darüber hinaus noch zwei weitere lebende Exbundespräsidenten (Horst Köhler, Joachim Gauck). Sind auch sie offizielle Vertreter des Staates? Für mich ist Wulffs Entsendung als offizieller Staatsvertreter zu diesem Staatsakt auf höchster Ebene eine Düpierung und Brüskierung Mexikos, die von einer Geringschätzung Mexikos zeugt und die Überheblichkeit gegenüber einem Land des Globalen Südens zeigt, das darüber hinaus G20- und OECD-Mitglied ist. Die Frage ist, wie das in Mexiko aufgenommen und registriert wird, mit einem abgehalfterten, zurückgetretenen Expräsidenten beehrt zu werden.
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