Ein Funken
Von Arnold SchölzelIm März vergangenen Jahres kündigte F.-B. Habel in jW die Premiere des Dokumentarfilms »Graben« von Sven Boeck über den 1929 geborenen Lyriker und Germanisten Erhard Scherner an. Der jW-Titel lautete: »Ein Berufsrevolutionär«, so hatte sich Scherner im Film selbst bezeichnet. Am Montag ist er in Potsdam gestorben.
Habel schrieb 2023: »Im Film heißt es: Scherner habe gedichtet und geholfen, Dichter zu reglementieren. Er selbst erzählt lebhaft, aber sachlich, wie sein Leben verlief. Etwa, wie er als 1929 im Berliner Scheunenviertel geborenes Arbeiterkind zur Kunst kam. Er sang gern, fand Anschluss an einen Chor, der in der Berliner Funkstunde auftrat, und wirkte 1943 gar an dem Heinz-Rühmann-Film ›Die Feuerzangenbowle‹ mit.« Die weiteren Stationen seines Lebens konnte er so nur in der SBZ und der DDR absolvieren: 1947 Abitur, Neulehrer, Studium u. a. bei Wolfgang Harich und Hans Mayer. 1949 freundete er sich mit dem Dichter Kurt Barthel (KuBa) an, der ihn auf Brecht, Fürnberg, Majakowski, Nezval, Hikmet aufmerksam machte. In einem jW-Interview erklärte Scherner 1998: »Was er dachte und schrieb, das glaubte er. Auch Dogmatisches. Ich bin überzeugt, seine Freunde liebten ihn des Undogmatischen wegen.«
Anlass für das Gespräch war ein zehnteiliger Bericht über eine China-Reise, die er und seine Frau, die Sinologin Helga Scherner (1929–2021), im Sommer 1998 angetreten hatten. Beide waren zusammen von 1956 bis 1958 in Beijing gewesen und hatten seitdem dort viele Freunde. 1998 nannte Scherner die Volksrepublik in jW einen »Funken Menschheitshoffnung«.
1959 wurde Scherner nach seiner Rückkehr Mitarbeiter im Zentralkomitee der SED, genauer für Alfred Kurella, der für kulturelle Fragen zuständig war, und löste vermutlich 1962 die »Lyrikwelle« in der DDR aus, als er auf einer Veranstaltung in der Akademie der Künste die Anwesenden aufforderte, eigene Gedichte vorzutragen. 1968 wurde Scherner stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur, betreute nach dem Tod Kurellas 1975 dessen Nachlass und machte sich 1980 als freischaffender Schriftsteller selbständig.
Im September 2020 stellten seine Frau und er in der jW-Galerie die Neuausgabe des Gefängnistagebuchs Ho Chi Minhs vor, das sie bereits 1975 in der DDR erstmals auf deutsch veröffentlich hatten. Eine seiner letzten Äußerungen in dieser Zeitung war ein Leserbrief, in dem er 2022 zur China-Politik der »Baerbocks« schrieb: »Freundschaft gegenüber einer souveränen Nation, die sich von den Fesseln feudaler Vergangenheit frei gemacht hat, kommt ihnen nicht in den Sinn. Das ist Versagen gegen alle Vernunft.«
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