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Aus: Ausgabe vom 04.10.2024, Seite 15 / Feminismus
Buchrezension

Fortgehen und Ankommen

»Kantika«: Roman über die mit Widrigkeiten gespickte Lebensgeschichte einer sephardischen Jüdin
Von Mona Grosche
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Schon der Titel »Kantika« – der in Ladino, der Sprache der sephardischen Juden »Lied« bedeutet – deutet an, dass es sich hier um eine besondere Lebensgeschichte handelt, die das ansonsten eher wenig beachtete Schicksal der Sepharden beleuchtet.

Rebecca wird 1902 in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, geboren und wächst in der multireligiösen und weltoffenen Metropole heran. Dort ist es für die Tochter aus begütertem Hause nicht weiter bemerkenswert, dass sie eine Jüdin mit sephardischen Wurzen ist. Die Familie Cohen gehört zu den Nachfahren der iberischen Juden, die im 15. Jahrhundert nach Jahrhunderten friedlicher Koexistenz vor der christlichen Reconquista flüchten mussten. Viele von ihnen gingen nach Thessaloniki und Konstantinopel, wo sie ihre eigene Sprache und Kultur weiter pflegten. Rebecca genießt die Privilegien der Istanbuler Oberschicht, wozu auch der Besuch einer katholischen Privatschule gehört. Dabei befindet sich der Stern der Familie bereits im Niedergang, denn ihr Vater Alberto ist wenig geschäftstüchtig, so dass es um seine Textilfabrik bereits vor dem Ersten Weltkrieg nicht zum besten steht. Alberto lässt das kalt, er verbringt seine Zeit mit Affären, Glücksspiel und Alkohol oder widmet sich seinem heißgeliebten Garten.

Nach dem Untergang des Osmanischen Reichs verschärfen sich unter den nationalistischen Jungtürken die Lebensbedingungen allgemein, insbesondere aber für die jüdische Bevölkerung. Die Firma wird enteignet, und so emigriert die Familie 1925 ausgerechnet in das Land der Vertreibung ihrer Vorfahren. Auf Einladung des spanischen Staates sucht sie in Barcelona Zuflucht – nur um dort festzustellen, dass es ganz und gar nicht opportun ist, sich als Juden zu erkennen zu geben. Somit stehen die Cohens vor einer tiefen Zäsur: Mit großen Geldsorgen konfrontiert, arbeitet der Vater als »Schammes«, eine Art Hausmeister an einer Synagoge, während Ehefrau Sultana und Tochter Rebecca ebenfalls zum Lebensunterhalt beitragen. Rebecca ist eine talentierte Schneiderin und eröffnet bald einen eigenen Modeladen – allerdings muss sie dafür ihre Herkunft geheimhalten.

Schon kurze Zeit später begeht sie den folgenschweren Fehler, einer Heirat mit dem exilierten sephardischen Juden Luis zuzustimmen, obwohl sie kaum etwas über ihn weiß. Das ungleiche Paar bekommt zwei Söhne, doch Luis ist kaum da, sondern dauernd mit obskuren Geschäften unterwegs. Irgendwann verschwindet er ganz, woraufhin sich Rebecca mitsamt den Kindern auf die lange Reise zu seinem Herkunftsort begibt, Adrianopel (heute Edirne) in der Osttürkei. Dort erfährt sie von seinem Tod und kehrt nach Barcelona zurück. Sie strebt nun eine Emigration in die USA an, und tatsächlich heiratet Rebecca 1934 auf Kuba den in New York lebenden Sam und erlangt damit das ersehnte Ticket in die Staaten. Sie ist Sam zwar noch nie begegnet, doch er ist der Witwer ihrer Kindheitsfreundin Lika, die bei der Geburt ihrer Tochter Luna gestorben ist. Von nun an übernimmt Rebecca die Mutterrolle für Likas Tochter, die an Zerebralparese leidet. Gegen den Widerstand der Schwiegermutter kümmert sie sich liebevoll-fordernd um die überbehütete Luna, während sie sich nach den eigenen Söhnen sehnt, die erst Jahre später in die USA kommen dürfen.

Mit Rebecca im Zentrum des Geschehens entspannt Elizabeth Graver einen großen epischen Bogen über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg. Grundlage des Romans sind Tonbandaufzeichnungen von Berichten ihrer Großmutter Rebecca aus dem Jahr 1985. Als Wermutstropfen bleibt, dass sie sich beim Erzählen fast ausschließlich auf die »Binnenwelt« der Familie Cohen fokussiert. Was ihr allerdings auf brillante Weise gelingt, ist die extreme Erfahrung von Migration und Exil spürbar werden zu lassen, die Resilienz der Frauen beim Fortgehen und Ankommen voller Respekt darzustellen. Zugleich bringt sie den Lesenden den Mikrokosmos sephardischen Lebens näher. Kein Wunder, dass das Buch mit dem »National Jewish Book Award« 2023 ausgezeichnet wurde.

Elizabeth Graver: Kantika. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Juliane Zaubitzer, Mare-Verlag, Hamburg 2024, 368 Seiten, 25 Euro

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