Teherans Vergeltungsangriff
Von Jakob ReimannAm Dienstag abend feuerten die iranischen Revolutionsgarden Hunderte Raketen und Marschflugkörper auf militärische Stellungen in Israel ab. Während viele von der israelischen Luftverteidigung abgefangen wurden, trafen erstmals seit Eskalation des Konflikts vor gut einem Jahr im großen Stil Raketen das israelische Kernland. Bei dem Angriff wurden je zwei Jordanier und Israelis verletzt und ein Palästinenser getötet. Der 37jährige Arbeiter Sameh Al-Asali aus Gaza befand sich einem Lager nahe Jericho im Westjordanland, als er von herabfallenden Teilen einer iranischen Rakete tödlich getroffen wurde, berichtet die New York Times. In den sozialen Netzwerken kursiert eine Vielzahl an Videos, die an verschiedenen Orten in Israel den Einschlag teils Dutzender Raketen zeigen sollen. Auch Accounts der israelischen Regierung teilen diese Videos. Die Sachschäden werden israelischen Angaben zufolge noch ermittelt. Aufnahmen, die von verschiedenen israelischen Medien verbreitet wurden, sollen einen mehrere Meter tiefen Krater im Boden in einem Ort in Zentralisrael sowie beschädigte Autos und herabfallende Raketenteile zeigen. Laut israelischer Armee soll ein Schulgebäude in im Zentrum des Landes getroffen worden sein.
Recht auf Selbstverteidigung
Bei dem Angriff auf Israel sind nach iranischen Angaben auch erstmals Hyperschallraketen zum Einsatz gekommen, meldet AFP. Mit der Rakete vom Typ »Fatah-1« sei es den Luftstreitkräften der Revolutionsgarden gelungen, die israelische Luftabwehr zu überwinden. Nach iranischen Angaben wurden insgesamt 200 Raketen und Marschflugkörper abgefeuert. Die Geschosse hätten keine zivilen, sondern ausschließlich militärische Einrichtungen zum Ziel gehabt, erklärte die iranische Führung. Nach Angaben der Revolutionsgarden habe es sich laut dpa um drei Luftwaffenstützpunkte und die Zentrale des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad gehandelt, die sich mitten in Tel Aviv befindet. Im direkten Umfeld des Mossad-Hauptquartiers sollen mehrere Raketen eingeschlagen sein. Außerdem habe der Angriff Luft- und Radarstützpunkten sowie anderen Einrichtungen des israelischen Sicherheitsapparats gegolten, der die Tötung ranghoher Hamas- und Hisbollah-Vertreter geplant habe, erklärten AP zufolge die Revolutionsgarden.
Der Iran habe das Recht, sich im Rahmen der internationalen Bestimmungen zu verteidigen, hieß es in der Erklärung weiter. Denn der Angriff sei eine Vergeltung für die Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija am 31. Juli in Teheran, Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah am 27. September im Beiruter Vorort Dahija sowie eines iranischen Generals. Weiter habe der Iran mit dem Angriff Selbstverteidigung gemäß der UN-Charta ausgeübt und ausschließlich Militär- und Sicherheitseinrichtungen angegriffen, »die für den Völkermord in Gaza und im Libanon verantwortlich sind«, erklärte der iranische Außenminister Abbas Aragtschi in einem Statement auf X. Sein Land habe dies getan, »nachdem wir fast zwei Monate lang enorme Zurückhaltung geübt haben, um Raum für eine Waffenruhe in Gaza zu schaffen«. Die Unterstützer Israels hätten nun eine Verantwortung, »die Kriegstreiber in Tel Aviv zu zügeln, anstatt sich an deren Wahnsinn zu beteiligen«.
USA involviert
Nach Angaben des israelischen Militärs hätten Israel, die USA und Jordanien »eine große Anzahl« der iranischen Geschosse abgefangen, wobei insbesondere Joseph Biden seine persönliche Rolle hervorhob. Die im östlichen Mittelmeer stationierten US-amerikanischen Seestreitkräfte hätten Israel »auf meine Anweisung hin« verteidigt, zitiert die New York Times den scheidenden US-Präsidenten; er habe den Angriff »vereitelt und unwirksam« gemacht. »Machen Sie keinen Fehler, die Vereinigten Staaten stehen sehr, sehr, sehr hinter Israel«, so Biden Stunden nach dem Angriff gegenüber Reportern. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat den Angriff als »verabscheuungswürdigen Akt der Aggression« bezeichnet und Antony Blinken diesen als »völlig inakzeptabel« verurteilt, zitiert dpa den US-Außenminister. »Die ganze Welt sollte dies verurteilen«, so Blinken am Mittwoch (Ortszeit) in Washington. Bundeskanzler Olaf Scholz verurteile die Angriffe »aufs schärfste«, und in einer besonderen Lesart der Geschehnisse der vergangenen Monate erklärte er, mit seinen Raketenangriffen riskiere der Iran, »die ganze Region in Brand zu setzen«. Dies gelte es »unter allen Umständen zu verhindern«, so Scholz in Berlin. Vielmehr müssten nun die Hisbollah im Libanon und der Iran ihre Angriffe auf Israel unverzüglich einstellen, während die verbündete Netanjahu-Regierung freilich nicht zur Besonnenheit aufgefordert wird.
Drohung mit Gegenschlag
In der Region nimmt die Sorge vor einem Flächenbrand weiter zu. Israel werde in den nächsten Tagen einen »bedeutenden Vergeltungsschlag« führen, der Ölförderanlagen im Iran und andere strategische Einrichtungen zum Ziel haben könnte, berichtete die US-Nachrichtenwebsite Axios unter Berufung auf israelische Beamte. Auch Einrichtungen des iranischen Atomprogramms sind demnach ein mögliches Ziel, wobei sich die USA wegen der Wahrscheinlichkeit einer weiteren Eskalation des Konflikts eher gegen diese Option aussprechen würden. Die Führung in Washington wollte es im vergangenen Jahr – bei aller materiellen, logistischen und militärischen Unterstützung der israelischen Aggression – stets vermeiden, als offene Kriegspartei wahrgenommen zu werden und in die israelische Falle zu tappen, Teherans Verbündete Hamas und Hisbollah direkt anzugreifen. Doch der iranische Angriff ändert diese Rollenverteilung nun offenbar, so dass sich Israel und die USA nun eng für einen gemeinsamen Vergeltungsschlag abstimmen. »Dieser Angriff (der iranische, jW) wird schwerwiegende Folgen haben, und wir werden mit Israel zusammenarbeiten, um dies zu erreichen«, sagte der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jakob Sullivan, am Dienstag abend und fügte hinzu, dass die USA »mit den Israelis in Gesprächen sind«. Das Pentagon erklärte vage, dass man sich eng mit Israel absprechen werde, um sicherzustellen, dass der Iran »ernsthafte Konsequenzen« zu tragen habe.
Die iranische Führung hat den Raketenangriff vom Dienstag als Erfolg bezeichnet. 90 Prozent der auf Israel abgefeuerten Raketen hätten ihr Ziel getroffen, behauptete die Revolutionsgarde am Dienstag abend in einer Erklärung. Unterdessen üben sich die Konfliktparteien im Austausch gegenseitiger Drohungen. »Der Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht – und er wird dafür bezahlen«, polterte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Dienstagabend. Der Generalstabschef der iranischen Armee, Mohammad Bagheri, drohte Israel im Falle eines erneuten Gegenschlags mit Angriffen auf die gesamte Infrastruktur des Landes. Das Raketenfeuer werde »mit größerer Intensität wiederholt und die gesamte Infrastruktur des Regimes wird ins Visier genommen«, zitiert AFP Bagheri. Die Islamische Republik strebe zwar keine Eskalation an, fürchte aber auch keinen Krieg, so Aragtschi. Auch an die USA, die im knapp einjährigen Krieg in Nahost die zentrale militärische Unterstützerrolle Israels spielen, wird eine unverhohlene Warnung aus Teheran gesendet. »Wir haben (...) die US-Streitkräfte gewarnt, sich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten und nicht einzugreifen«, sagte Aragtschi dem iranischen Staatsfernsehen. Andernfalls werde die US-Armee mit einer »harten Antwort durch uns rechnen müssen«, so Aragtschi weiter.
Gewagter Drahtseilakt
Abseits des öffentlichen Säbelrasselns versucht die Führung in Teheran indes, eine weitere Eskalation und territoriale Ausweitung des Krieges zu verhindern. So übte sich der iranische Außenminister Abbas Araghchi in Schattendiplomatie und telefonierte unmittelbar nach den Angriffen mit seinen europäischen Amtskollegen in Berlin, London, Paris und weiteren Ländern, wie die iranische Nachrichtenagentur IRNA berichtete, um deren besonnenes Einwirken auf Israel zu erwirken. Mit dem Angriff wollte die Führung in Teheran den Drahtseilakt wagen, zwar militärische Stärke zu demonstrieren und so bei seinen Verbündeten in der Region nicht das Gesicht zu verlieren, andererseits durch den Beschuss ausschließlich militärischer Ziele jedoch einen offenen Krieg mit Israel auszuschließen. Der Iran bezeichnete die Operation selbst als »kalibrierte Reaktion«, und man betrachte die Situation nun als erledigt. »Unsere Aktion ist abgeschlossen«, schrieb der iranische Außenminister Abbas Araqchi auf X, um jedoch sofort die Warnung an die Netanjahu-Regierung nachzulegen: »Es sei denn, das israelische Regime beschließt, zu weiteren Vergeltungsmaßnahmen aufzurufen. In diesem Fall wird unsere Antwort stärker und mächtiger sein.«
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