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02.10.2024, 15:14:20 / Ausland
Lateinamerika

Historischer Tag in Mexiko

Claudia Sheinbaum übernimmt als erste Frau Präsidentenamt. Hoffnung auf Vertiefung der sozialen Reformpolitik
Von Volker Hermsdorf
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Claudia Sheinbaum wurde am Dienstag unter dem Beifall sozialer Bewegungen ins Präsidentenamt eingeführt (Mexiko-Stadt, 1.10.2024)

Der oft überstrapazierte Begriff »historisch« war am Dienstag in Mexiko angebracht, als Claudia Sheinbaum von der sozialdemokratischen Nationalen Erneuerungsbewegung (Morena) von ihrem Vorgänger Andrés Manuel López Obrador das Präsidentenamt übernahm. 500 Jahre nach der spanischen Eroberung und 200 Jahre nach Gründung der Republik am 4. Oktober 1824 ist die 62jährige Physikerin die erste Frau an der Spitze des bevölkerungsreichsten spanischsprachigen Landes auf dem amerikanischen Kontinent. Vor Zehntausenden jubelnden Anhängern stellte sie ihr 100 Punkte umfassendes Regierungsprogramm für die kommenden sechs Jahre vor, nachdem López Obrador ihr im Abgeordnetenhaus die Präsidentenschärpe umgehängt hatte. »Heute beginnt der zweite Abschnitt der vierten Transformation des öffentlichen Lebens in Mexiko«, erklärte Sheinbaum auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt. »Es ist Zeit für den Wandel, und es ist Zeit für die Frauen«, rief sie.

Abkehr vom Neoliberalismus

Das von López Obrador initiierte Projekt der »Vierten Transformation« gilt als Weiterentwicklung der drei bedeutendsten historischer Prozesse des Landes. Dazu gehören die Unabhängigkeit von Spanien (1810–1821), erfolgreiche Reformen gegen konservative Kräfte (1858–1862) und die mexikanische Revolution (1911–1917). »Das Entwicklungsmodell des Landes wurde verändert, weg vom gescheiterten neoliberalen Modell und dem System der Korruption und Privilegien«, betonte Sheinbaum in ihrer Rede. Die Präsidentin will die unter der Regierung von López Obrador begonnenen Projekte fortsetzen, wie den Bau von einer Million Wohnungen insbesondere für junge Menschen. Über die Ansätze ihres Vorgängers hinausgehend, kündigte Sheinbaum eine Politik zur Stärkung der Rechte von Frauen und indigenen Ureinwohnern an. Sie wandte sich entschieden gegen neoliberale Konzepte sowie jede Form von Klassismus, Machismus und Rassismus. Unter anderem versprach sie, den Mindestlohn weiter zu erhöhen, die Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche zu reduzieren und auf erneuerbare Energieträger zu setzen. Zudem will Sheinbaum die Preise für Benzin und Lebensmittel begrenzen, soziale Programme für Frauen und Kinder ausweiten und Unternehmensinvestitionen, Wohnungsbau und den Ausbau der Maya-Zuglinie vorantreiben. Derartige Vorhaben muss sie allerdings gegen eine stramm rechte Opposition durchsetzen, die sich nach ihrer Wahlniederlage vom Juni neu zu organisieren versucht. Doch Sheinbaums Partei Morena regiert in 24 der 32 Bundesstaaten und hat die Mehrheit im Parlament.

Große Hürden

Zu drängenden Herausforderungen der neuen Präsidentin gehören die Gewalt der Drogenkartelle und strukturelle Probleme wie die Sicherheitslage, die in mehreren Bundesstaaten besonders schlecht ist. Als Reaktion darauf kündigte sie die Stärkung der Nationalgarde an. Sheinbaum versprach jedoch, in ihrer Regierung die Freiheiten zu respektieren, und wies die Vorstellung einer »Militarisierung« der öffentlichen Sicherheit sowie eine Rückkehr zum »Krieg gegen die Drogen« zurück, den der ehemalige rechte Präsident Felipe Calderón (2006–2012) eingeleitet hatte. »Ich versichere euch: In unserer Regierung werden wir alle Freiheiten garantieren, die Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit. Die Menschenrechte werden respektiert, und wir werden niemals die Staatsgewalt einsetzen, um das Volk zu unterdrücken«, bekräftigte sie.

Weiter muss sich Sheinbaum mit der Möglichkeit eines Regierungswechsels in den USA auseinandersetzen. Eine erneute Wahl von Donald Trump, der einen härteren Kurs gegenüber Migranten, beim Handel und der Drogenbekämpfung einschlagen könnte, wäre für viele Mexikaner ein Alptraum. Doch auch ein Sieg der Demokraten dürfte das Verhältnis belasten, wie Äußerungen des US-Botschafters Ken Salazar zeigten, der sich in die Debatte um die von López Obrador eingeleitete Justizreform eingemischt hatte. In einem Kommentar schrieb die Washington Post am Dienstag über das zu erwartende Verhältnis zwischen Washington und Sheinbaum: »Auf die eine oder andere Weise wird sich Washington einmischen. Und das wird der mexikanischen Regierung nicht gefallen.«

Breite Zustimmung

Im eigenen Land genießt die am 2. Juni mit rund 59,4 Prozent gewählte Präsidentin weiterhin hohe Zustimmung und weckt Hoffnungen bei früher von politischen Entscheidungen ausgegrenzten Teilen der Gesellschaft. Als Symbol hatte sie am Nachmittag den traditionellen Machtstab der 70 indigenen Völker und der afromexikanischen Gemeinschaft erhalten. Bei der Übergabe unterzogen Vertreter der indigenen Völker Sheinbaum einer »Limpia«, dem traditionellen Reinigungsritual. »Du bist die Stimme derer, die lange Zeit keine Stimme hatten. Du bist die Stimme unseres Volkes. Mit Würde bist du die Hoffnung, die wir hatten. Wir indigenen Frauen feiern«, zitierte die spanische Agentur Efe Ernestina Ortiz Peña, eine ihrer Vertreterinnen.

An der Amtseinführung im Präsidentenpalast nahmen Delegationen aus 105 Ländern teil. Zu den Gästen des protokollarischen Akts gehörten unter anderem die Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (Brasilien), Gabriel Boric (Chile), Gustavo Petro (Kolumbien), Miguel Díaz-Canel (Kuba), Xiomara Castro (Honduras), Luis Abinader (Dominikanische Republik) und Bernardo Arévalo (Guatemala). Washington hatte die First Lady, Jill Biden, Berlin den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff nach Mexiko-Stadt geschickt. Die spanische EU-Abgeordnete Irene Montero (Podemos) kritisierte die Regierung in Madrid dafür, dass sie ihre Teilnahme an die Präsenz von König Felipe VI. geknüpft habe, der nicht eingeladen wurde. Ausdrücklich eingeladen worden war dagegen Russlands Präsident Wladimir Putin, der allerdings wie auch Nicolás Maduro (Venezuela) und Luis Arce (Bolivien) persönlich nicht an der Zeremonie teilnahm.

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