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Aus: Ausgabe vom 16.10.2024, Seite 4 / Inland
Nachruf

Als wir anfingen

Vom Acker ins Politbüro. Zum Tod von Margarete Müller
Von Frank Schumann
Bundesarchiv_Bild_183-L0601-0040,_LPG_Dedelow,_Besuch_durch_Eric
Wie wird die Ernte? Gerhard Grüneberg, Margarete Müller, Erich Honecker und Friedrich Clermont (v. l. n. r.) prüfen den Raps (Dedelow, 1.6.1972)

Es war Winter, als wir nach Kotelow fuhren. Dort lebte Margarete Müller, einst die erste Traktoristin der DDR und in den sechziger Jahren die einzige Frau im engeren Führungszirkel der SED. Sie wohnte in Kotelow schon ein ganzes Leben lang, obgleich sie doch von 1963 bis 1989 dem Politbüro angehört hatte - nominell die ganze Zeit als Kandidatin. Exgeneralsekretär Egon Krenz wollte sie als Zeitzeugin befragen: Er arbeitete an einem Erinnerungsbuch, im Sommer 2013 jährte sich zum vierzigsten Mal der Todestag von Walter Ulbricht.

Der hatte die 31jährige Margarete Müller einst nach Berlin geholt. Warum? »Er wollte Praktiker im Politbüro. Ich war jung, qualifiziert, Frau und leitete eine Genossenschaft«, sagte sie, als Krenz sie nach dem Grund fragte. Die beiden hatten sich seit Jahrzehnten nicht gesehen. Wie es ihr gesundheitlich gehe, fragte er weiter. Ach, ganz gut, sagte sie. Nur beim Gehen werde sie immer langsamer. Krenz riet, sie solle Gymnastik machen. »Egon, ich habe viertausend Quadratmeter Garten allein zu bewirtschaften, da habe ich Gymnastik genug.«

Zu diesem Garten gehörten auch so um die vierzig Hühner. Die legten unablässig Eier, die Margarete Müller früher immer zum Dorfkonsum trug. Dann gab es die DDR und den Dorfkonsum nicht mehr, worauf die Hühner jedoch keine Rücksicht nahmen: Sie produzierten weiter. Margarete Müller verzehrte nun mehrere Eier am Tag. Der Arzt hob mahnend den Zeigefinger. »Was soll ich dir sagen: Erst nachdem ich die Eier abgesetzt und die Hühner geschlachtet hatte, stieg mein Cholesterinspiegel«, erzählte sie lachend.

Margarete Müller verdiente bis zur Rente ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, nie mit der Politik. Sie brauchte auch keine Personenschützer in dem Dorf, in dem sie 1960 mit 29 Jahren LPG-Vorsitzende geworden war und es auch bis zum Ende der DDR blieb. Sie besaß Rückhalt und Respekt. Als das Örtchen im Osten Mecklenburg-Vorpommerns seine 625-Jahr-Feier beging, weit nach der Jahrtausendwende, wurde sie gebeten, die Festrede zu halten. Das ganze Dorf kam, fast dreihundert Menschen: »Und ich berichtete, wie es war, als wir anfingen. Es gab keine befestigten Straßen, die Stiefel blieben im tiefen Schlamm stecken. Und dann kam Hilfe; von der NVA, von der Sowjetarmee, die haben erst einmal die Wege mit ihrer Technik befestigt. Stück für Stück haben wir dieses Dorf, sagen wir ruhig, zivilisiert und vorangebracht. Über jedes neue Haus, jeden neuen Stall, jede neue Scheune, über die Milchviehanlage, die Schweineställe, die wir gemeinsam errichteten, haben wir uns auch gemeinsam gefreut. Wir haben zusammen gefeiert und uns gemeinsam geärgert, wenn es nicht so lief, wie wir es uns wünschten. Wir waren eine Gemeinschaft. Und selbst im Sommer konnten wir in Urlaub fahren.« Jeder sah für sich und seine Familie in diesem winzigen Dorf eine Perspektive.

So habe sie geredet, sagte sie. »Was meinst du, was ich da für einen Beifall bekommen habe.« Nur von der Freiwilligen Feuerwehr wurde sie kritisiert. »Frau Müller, alles und alle haben Sie erwähnt. Doch uns haben Sie vergessen!« Das tat ihr leid, was man ihr noch immer ansah.

Margarete Müller blieb bodenständig, auch wenn sie gelegentlich mit dem Volvo vom Acker geholt und zu Sitzungen der Volkskammer oder des Staatsrates nach Berlin gefahren wurde. Menschen wie sie machten diesen Staat wirklich zu dem der Arbeiter und Bauern. Wie viele Menschen in der DDR neigte sie mitunter zu Partisanenmethoden. Am Dorfeingang stand ein Torhaus aus dem 18. Jahrhundert. Früher ging die gepflasterte Dorfstraße hindurch. Wiederholt blieben LPG-Fuhrwerke darin hängen, einmal brach sogar eine Deichsel durchs Mauerwerk, als die Pferde durchgingen. Und hinter der Wand stand ein Kinderbett. Sie bot das reetgedeckte Torhaus dem Agrarmuseum in Alt-Schwerin an. Dort aber winkte man ab. »Als einmal in der Nähe ein Panzer der NVA unterwegs war, bin ich hin und habe dem Fahrer tausend Mark geboten, wenn er mal zufällig …« Der Soldat habe nur den Kopf geschüttelt und gesagt: »Genossin Müller, das mache ich nicht. Das Gebäude steht doch unter Denkmalschutz.« Das Torhaus verrotte nun seit Jahren und stehe zum Verkauf, erzählte uns Margarete Müller 2013.

Seit einigen Monaten lebte sie im »Haus der Zufriedenheit«, einem Pflegeheim der Volkssolidarität in Ferdinandshof, 20 Kilometer entfernt von Kotelow. Dort ist sie am Sonnabend, kurz vor Mitternacht, gestorben. Eine Politikerin der DDR.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph D. aus Gotha (16. Oktober 2024 um 09:19 Uhr)
    Der einfühlsame Nachruf von Frank Schumann auf Margarete Müller ist sehr berührend. Er erinnert an eine bescheidene und stets bodenständig gebliebene DDR-Politikerin, die noch dazu über großes Fachwissen in der Landwirtschaft verfügte. Beispiele dieser Art wird man heute nicht mehr finden, wo in der Politik oft die Ergatterung bedeutsamer und vor allem gut dotierter Posten mit möglichst großem Einfluss im Mittelpunkt steht und Fachkompetenz – soweit überhaupt vorhanden – eher als Beiwerk hingenommen wird. Ralph Dobrawa, Gotha
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (15. Oktober 2024 um 19:45 Uhr)
    Danke, Frank Schumann, für diese Würdigung. Eine von uns? Ja, eine von uns!

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