Irgendwann ist Schluss
Von Gerhard HanloserNicht nur Carola Rackete ist für mehr Raketen. Es finden sich in allen möglichen Milieus der Restlinken Vertreter, die sich für eine Bewaffnung der Ukraine gegen den russischen Angreifer aussprechen. Man sollte es sich nicht zu einfach machen und bloß Korruption, »antideutsch-bellizistische« Verwirrung oder Opportunismus bei ihnen ausmachen.
Ihre Argumente lauten: Man müsse dem Begehren der Angegriffenen nachkommen – und das seien nun mal »die Ukrainer«. Auf sie nicht zu hören, wäre westeuropäische Ignoranz. Sie verweisen auf die reaktionären Überbauphänomene des russischen Kapitalismus und meinen, dass die Ukraine »emanzipatorischer« und deswegen in ihrer Staatlichkeit zu verteidigen sei. Zudem bemühen sie gerne antifaschistische Analogien, sehen Putin als kriegslüsternen Despoten oder revisionistischen Raumeroberer, um vor jedem »Appeasement« warnen zu können.
In dem Sammelband »Sterben und sterben lassen. Der Ukraine-Krieg als Klassenkonflikt« eines internationalistischen Arbeitskreises, der sich den Namen Beau Séjour gegeben hat, ist nun wichtiges Material versammelt, um derlei ideologische Argumente zu entkräften, die lediglich dem neuen Militarismus Deutschlands ein linkes Mäntelchen umhängen. Beau Séjour war der Name der Pension in der Schweizer Ortschaft Zimmerwald, wo sich im September 1915 die sozialistischen Kriegsgegner trafen, im übrigen als Ornithologen getarnt. Zwei der Beiträge in dem Band fragen entsprechend nach der Aktualität der Thesen dieser Zimmerwalder Linken, die damals »Klassenkampf statt Burgfrieden« propagierten. Leider findet sich kein Text in dem Band, der die ausufernden Nazi- und Faschismusvergleiche zurückweist oder die Behauptungen, Russland führe einen »Vernichtungskrieg«.
Das Buch macht in über einem Dutzend thesenhafter Aufsätze, analytischer Artikel und längeren Interviews deutlich, dass es »die Ukrainer« nicht gibt. So kommt etwa der junge Kommunist Andrew aus Charkiw zu Wort, dem es im ersten Kriegsjahr zu desertieren gelang und der seitdem im europäischen Ausland lebt. Er spricht sich für Fahnenflucht auf allen Seiten aus und dafür, ein Klima der Unzufriedenheit zu stiften, das die Kriegsmaschine zum Stocken bringen könnte. Seine Einschätzung der Entfaltung von Klassenkämpfen in einem repressiven Klima ist pessimistisch. Er verweist auf die hohe Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushalts von Krediten und Anleihen und hofft auf Impulse von außen zur Beilegung des Konflikts. Ein anarchistisches Kollektiv aus der Ukraine erklärt, dass realistisch betrachtet nur riesige Investitionen aus dem Westen, aus China und der Türkei zu einem wirtschaftlichen Sprung in der Ukraine führen könnten, der das Land über den Vorkriegszustand hinausbringen könnte. Erst dann könne eine Massenbewegung der Arbeiterklasse, die im Moment weitgehend nationalistisch eingesponnen sei, entstehen. Wenn westliche Linke meinen, mit der Ukraine »die liberale Demokratie« verteidigen zu müssen, antworten sie: »Wir haben hier nichts zu verteidigen, außer die Macht der Obrigkeit und das Eigentum der Unternehmer.« Genauso sieht es die Gruppe Taniev, Arbeiterfront der Ukraine, die kategorisch festhält, dass in diesem Krieg keine nationalen Interessen verteidigt werden, sondern die Interessen des nationalen Kapitals: »Man verteidigt dann nicht die Menschen, die in der Ukraine leben, sondern das Kapital. Wer Waffenlieferungen befürwortet, macht sich mitschuldig an den Toten auf beiden Seiten.«
Dass die Menschen in der Ukraine ein Bauernopfer in einem übergeordneten imperialistischen Kampf sind, machen mehrere Aufsätze deutlich. Darin wird zuweilen dafür plädiert, die Bekundungen Putins ernst zu nehmen. Eine englische Diskussionsgruppe beschreibt, dass die herrschende Klasse Russlands nicht akzeptieren könne, dass ein Land im eigenen Hinterhof von den USA mit NATO-Waffen hochgerüstet wird. Moskau lasse sich der Logik moderner Staatlichkeit folgend natürlich nicht bereitwillig zu einer unbedeutenden »Regionalmacht« zurückstufen und kann dabei bislang noch Mehrheiten im eigenen Land hinter sich wissen. Den USA sei es allerdings gelungen, Russland in einen Abnutzungskrieg zu ziehen. Die auf Hegemonialmacht und Unilateralismus tendierende absteigende Supermacht spekuliere auf eine wirtschaftliche und militärische Schwächung Russlands. Die Gruppe lässt in ihrem Text offen, ob dies auch gelingt – es sieht nicht so aus.
In den zwei abschließenden Beiträgen diskutieren Aaron Eckstein, Ruth Jackson und Lukas Egger, warum trotz gegenteiliger Annahmen der Gaspreis in Deutschland und Europa nicht nach Kriegsausbruch konstant hoch blieb. Interessant ist, dass es tatsächlich zur raschen Ausweitung und Umlagerung von Kapazitäten kam. Doch die Gaskrise ist für Europa noch nicht ausgestanden. Das LNG (Flüssiggas) mit seinem hohen Frackinganteil ist ökologisch eine Katastrophe. Da würde sich eine stärkere Zusammenarbeit von Klima- und Friedensbewegung anbieten.
Ob der Ukraine-Krieg in erster Linie ein Klassenkonflikt ist, wie der Untertitel des Buches suggeriert, bleibt dennoch offen. Weder haben ausgeweitete Klassenkämpfe den Krieg motiviert, noch kann eine der Parteien für sich reklamieren, eher ein Klasseninteresse der unteren Klassen zu verkörpern, wie es die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs glaubhaft vorgeben konnte. Auch scheint der Konflikt bislang noch nicht über ein Wiedererstarken von unabhängigen Klassenauseinandersetzungen gestoppt werden zu können. Die Parole »Sozialismus oder Barbarei« ist im Prinzip richtig, wird aber nur von Kleinstgruppen artikuliert. Druck durch Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und Zwang zu Diplomatie von außen scheinen die realistischsten Wege zu sein, wie dieser Krieg zu einem Ende kommen kann. Wer ein »Immer mehr« an Waffenlieferungen fordert, steht auf seiten der Barbarei. Diese Leute wähnen sich auf der moralisch richtigen Seite und werden sich wohl auch durch dieses nützliche, faktenreiche Buch nicht überzeugen lassen.
AK Beau Séjour (Hg.): Sterben und sterben lassen. Der Ukraine-Krieg als Klassenkonflikt. Verlag Buchmacherei, Berlin 2024, 208 Seiten, 15 Euro
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (17. Oktober 2024 um 14:15 Uhr)Anhand der Rezension vermute ich, dass der Untertitel des Buches vielleicht besser als »Aspekte des Klassenkonflikts im Ukraine-Krieg« gelesen werden sollte. Es ist ja genau das Problem vieler, wenn nicht der meisten »Linken«, dass der Klassenbegriff bei ihnen keine Rolle (mehr) spielt. Andere Linke sehen vor lauter Klassen nicht, dass die »Massen« nicht viel von Klassenkampf wissen und wissen wollen. Da müssen dann Manipulation und Meinungsmache als Ursache herhalten (Wink mit dem Zaunpfahl auch an die jW). Ich werde das Buch kaufen.
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Leserbrief von Peter Groß (16. Oktober 2024 um 16:31 Uhr)Allein die Historiker, Militaristen und Medienmogule sind in ihrer Kriegstreiberei so gefangen, dass ihnen die Grüne Linie nicht auffällt, die von den Zaren, der Sowjetunion, später Russland aus guten Gründen beachtet wurde, die für Deutschland an den Außengrenzen der DDR endet. Schon das Zarenreich war auf Zuwanderung angewiesen und ist an Krieg und dessen Kosten zerbrochen. Die klügsten Köpfe fragen nicht, was es finanziell bedeutet, einen kulturell und wirtschaftlich entwickelten Staatenbund wie Westeuropa dauerhaft zu unterwerfen. Die Wertschöpfung wäre um ein Vielfaches zu gering, um dauerhafte Besatzungskosten auszugleichen. Am Beispiel der DDR wird die Ursache für den Zusammenbruch erkennbar. Sie konnte das sowjetische Heer nicht länger alimentieren, war ökologisch und finanziell am Ende. Die Besatzungslasten waren nicht mehr tragbar. Die ehemals entstandene Schuldenlast belastet Deutschland im nachhinein immer noch mit etwa zwei Billionen Euro. Die damalige Besatzungsmacht Sowjetunion scheiterte an zahllosen Scharmützeln, war allen »Siegen« ferner denn je, konnte vieles aus Rohstoffexporten kompensieren, ebenso wie Amerika. Deutschland scheitert und verarmt an Kriegskosten. Die Auswirkungen der Waffenhilfe für die Ukraine werden täglich deutlicher. Preistreiberei bei Miet- und Energiekosten, Zusammenbruch der Infrastruktur, des Gesundheitswesens, wo höhere Lasten allein den gesetzlich Versicherten aufgebürdet werden und Kaufkraft vernichtet. Dem folgen fehlende Mittel für Bildung. Eine, leider auch von Linken vorangetriebene Schuldenaufnahme, deren Zinslast für kommende Generationen untragbar wird. Bei Betrachtung der Kostenlasten für Lohnarbeiter müssten Steuerfreibeträge der Arbeitnehmer und Rentner heute schon mehr als verdoppelt werden, wollte man dem Grundgesetz gerecht werden, dass die unmittelbaren Lebenshaltungskosten nicht versteuert werden dürfen. Darüber hinaus wäre bei Armut und Not ein stetig steigender Ausgleich aus Steuermitteln notwendig.
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