Im Abwärtsstrudel
Von Michael MerzDas Elend auf den Straßen der deutschen Städte wächst. Menschen ohne Dach über dem Kopf übernachten häufig in Hauseingängen, Bahnhöfen oder über halbwegs warmen Luftschächten. Doch das ist nur die sichtbarste Form der Armut in den großen Ballungsräumen. Längst ist die Sorge um die Existenz auch bei Beschäftigten mit niedrigen und mittleren Löhnen angekommen. Etwa bei einer Familie aus Bonn, die sich kürzlich bei der Wohnungslosenhilfe meldete, weil sie verzweifelt ist und Angst davor hat, obdachlos zu werden. Ihre kleine Wohnung in Bonn-Tannenbusch, in die der Familienvater, ein Vollzeit erwerbstätiger Handwerker, vor neun Jahren allein eingezogen ist, wird mit 45 Quadratmetern perspektivisch zu klein. Inzwischen wohnt er mit seiner Partnerin dort und beide erwarten ein Kind. Doch auf dem angespannten Immobilienmarkt ist nichts zu finden, und die neuen Eigentümer aus Rheinland-Pfalz haben dem Paar zudem wegen Eigenbedarfs gekündigt.
Es sind Fälle wie diese, die illustrieren: Es ist höchste Zeit für wirksame Maßnahmen, um die Lebenssituation der Betroffenen nachhaltig zu verbessern. Das forderten die Verbände der Wohnungslosen- und Mieterhilfen, die Nationale Armutskonferenz (NAK) und das Bündnis »Aufrecht bestehen« anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung der Armut am Donnerstag. Allerdings passiert genau das Gegenteil: Menschen mit geringem Einkommen werden immer häufiger an den Pranger gestellt, Superreiche hingegen gehätschelt. Der CDU-Kanzlerkandidat, Parteichef Friedrich Merz, behauptete jüngst in der ARD, das eine Prozent der Einkommensstärksten bestehe nicht aus Besserverdienenden. Sie zu belasten, bedeute eine Belastung des Mittelstands. Eine schon fast typische Äußerung eines Bundespolitikers des konservativ-liberalen Spektrums. Die Armen hingegen haben keine Stimme. »Stigmatisierung, Ächtung und Diffamierung« seien an der Tagesordnung, so Michael David vom NAK-Koordinierungskreis. Die Mär vom »aufgeblähten Sozialstaat« sei weit verbreitet. »Armen-Bashing ist Teil der normalen Alltagssprache, des Politik- und Mediengeschehens.« Der größte Teil der »Bürgergeld«-Beziehenden seien Kinder, Alleinerziehende, Menschen in Fortbildung, mit kleinen Kindern, chronisch Kranke, Personen mit Lese- und Schreibproblemen oder Menschen, die in strukturschwachen Gebieten leben. Und über zwölf Prozent der »Bürgergeld«-Haushalte müssten im Schnitt mindestens 100 Euro Wohnkosten aus dem Regelsatz bestreiten, da ihr Quartier als »nicht angemessen« gelte. Ein Umzug sei aber meist nicht möglich.
Das Risiko für einkommensschwache Menschen, das Zuhause zu verlieren, ist hoch. Und Deutschland ist ein Land der Mieter. Mehr als die Hälfte aller Haushalte – 53 Prozent – wohnt zur Miete. Und eine aktuelle Studie belege, dass etwa die Hälfte dieser Haushalte (11,6 Millionen) zu den untersten drei Einkommensklassen gehören, erklärte Eva-Maria Winckelmann vom hessischen Landesverband des Deutschen Mieterbunds am Donnerstag. »Jeder dritte Mieterhaushalt, und somit mehr als sieben Millionen Haushalte, ist durch seine Wohnkosten überlastet«, so Winckelmann. Mehr als drei Millionen Haushalte müssten sogar mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für ihre Miete inklusive Heizkosten ausgeben.
Und wem auch noch das bisschen »Bürgergeld« gestrichen, für den wird es brenzlig. »Bei Leistungsminderungen aufgrund von Sanktionen erhöht sich das Risiko, die Wohnung zu verlieren«, so Sabine Bösing, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG), am Donnerstag. Fehle Geld für Essen und Trinken oder für Energie, entstehen dadurch Schulden, kann eine Verschuldungsspirale die Folge sein. Im Jahr 2022 wurden insgesamt 607.000 obdachlose Menschen im Land erfasst, dabei sind nicht einmal alle erfasst, viele finden bei Bekannten und Verwandten Unterschlupf. 27.319 Zwangsräumungen wurden zudem gemeldet, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Gruppe der Wohnungslosen sei sehr heterogen, so Bösing zu jW: »Viele Geflüchtete, Erwerbslose und Bezieher von Armutsrenten sind häufig betroffen, der Anteil von Familien erhöht sich besorgniserregend.«
Eine Stellschraube zu drehen schlug die NAK am Donnerstag vor: »Wir brauchen eine Schonfristregelung auch für ordentliche Kündigungen. Einmaliger Zahlungsverzug darf nicht zum Wohnungsverlust führen«, sagte Eva-Maria Winckelmann vom Mieterbund Hessen.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
Mehr aus: Inland
-
Bundestag billigt Krankenhausreform
vom 18.10.2024 -
»Mit Bildung hat das nicht viel zu tun«
vom 18.10.2024 -
FU-Besetzung gescheitert
vom 18.10.2024 -
Die Brombeere reift heran
vom 18.10.2024 -
Parlamentarier wollen AfD-Verbot
vom 18.10.2024 -
Zu den Waffeln!
vom 18.10.2024