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Aus: Ausgabe vom 26.10.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Geschichte und Eigensinn

Ulrich Rüdenauers Debütroman über Gottesfurcht und Selbstermächtigung im deutschen Hinterland
Von Andreas Schäfler
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Journalist, Literatur- und Musikkritiker und nun auch Romancier: Ulrich Rüdenauer

Man staunt nicht schlecht, dass einen schon der Auftakt dieses kleinen Romans so gefangen nimmt. Denn Ulrich Rüdenauer tut in seinem Erstling »Abseits« zunächst kaum mehr, als den neunjährigen Richard in die Welt zu stellen und ihm erste zaghafte Erkundungen zuzumuten. Aber genau oder doch fast so ist es in der Rückschau ja gewesen, als man sich von einem unbedarften Knirps in einen neugierigen Jungen zu verwandeln begann. Richard macht beim Lesen und Schreiben zusehends Fortschritte und traut sich mit dem Spracherwerb bald auch schon vorsichtiges Nachdenken zu. Seine erste Selbsterkenntnis ist allerdings bitter und hebt ihn von allen anderen Kindern ab: Auf die Erwachsenenfrage »Wem gehörst du?« hat er keine Antwort.

Und auch keine Erklärung für sich selbst, warum er mit falschen Geschwistern bei Onkel und Tante aufwächst. Dass er auf dem Bauernhof mit anpacken, dem Lehrer und mehr noch dem Pfarrer gehorchen muss und all den strengen und freudlosen Erwachsenen gegenüber keine eigenen Ansprüche zu stellen hat, nimmt er klaglos hin. Die Prügelstrafen steckt er weg: »Ein angekündigter Schmerz ist unermesslich. Ein plötzlicher ist kaum der Rede wert.« Ein wenig Geborgenheit stiftet immerhin der Großvater, und in den paar ortsansässigen Sonderlingen wachsen ihm Verbündete zu. Am meisten aber kommt Richard zugute, dass er es mit sich selbst aushält. Weil er ein begabter Träumer ist.

Wie im Brennglas der eigenen Erinnerung vollzieht man die Empfindungen nach, die der Autor seine Hauptfigur hegen lässt: wie es sich anfühlte, das erste Mal krank zu sein. Das erste Mal von einem Mädchen schöne Augen gemacht zu bekommen. Plötzlich aber kommt es zu einem Westernritt mit dramatischen Folgen: Als Richard auf dem Rückweg von der Feldarbeit der Ackergaul durchgeht und der Onkel beim Versuch, das Tier einzufangen, beinahe zu Tode kommt, bleibt dem Jungen nur die verzweifelte Hoffnung, nicht schuldig gesprochen zu werden. Und beim Krankenbesuch im städtischen Hospital erhält er tatsächlich die Absolution.

Rüdenauer belässt die Handlung lange zeit- und ortlos, führt die Leserin und den Leser jederzeit auf Augenhöhe mit der Hauptfigur und ohne Hast durch seine Geschichte. Dass in diesem Landstrich explizit deutsche Zustände herrschen, die noch dazu in einem dumpfen Nachkriegsschweigen eingesperrt sind, skizziert der Autor leichthändig nebenbei. Eines Tages machen dann aber, vom ersten Fernsehgerät im Dorfgasthaus aus, klangvolle Klarnamen die Runde: Toni Turek, Max Morlock, Fritz Walter und Co. hauen auf dem Weg zum Wunder von Bern die Österreicher weg. »Das war also auch das Leben. Dass es einen Jubel gab«, stellt Richard fest.

Das Protokoll des frühreifen Einzelgängers vermerkt auch die beglückende Entdeckung des Eigensinns, den der Autor seinen Richard bis in die Syntax hinein kultivieren lässt. Hier grüßt unverkennbar Robert Walser, dessen Satz »Ich mache meinen Gang; / der führt ein Stückchen weit / und heim; dann ohne Klang / und Wort bin ich beiseit« dem Roman als zweites Motto vorangestellt ist. Das erste ist die spirituelle Wehklage »Sometimes I feel like a motherless child«. Halb aus Verzweiflung, halb von kindlichem Entdeckerfieber getrieben, versucht Richard, hinter das Geheimnis seiner Identität zu kommen, auch wenn das nur mit Übertretung und mit Sünde zu haben ist. Im Schlafzimmer der Ersatzeltern stöbert er sorgsam versteckte Fotos und Zeitungsausschnitte auf und behändigt später auch einen unterschlagenen Brief an den Onkel. Die Indizienkette schließt sich jedoch erst, als Herr Adler vom Werkzeugladen auf dem Dorffest ein paar Gläser zuviel getrunken hat und Richard auf dem Heimweg von den polnischen Zwangsarbeitern erzählt, die hier mal lebten.

Wenn der Junge nun zwei und zwei zusammenzählte, stünde ihm nicht nur endlich seine wahre Herkunft vor Augen, sondern auch das Entsetzen darüber, dass etliche dieser gottesfürchtigen Leute im deutschen Abseits wenige Jahre zuvor noch Sklavenhalter und Schlimmeres gewesen waren. Wieviel von dieser Schreckensbilanz Richard in dieser Szene tatsächlich bewusst wird, verschleiert der Autor, der sonst als vielseitiger Kulturjournalist für Zeitungen und fürs Radio arbeitet, gekonnt.

Zum Schluss erlaubt er sich eine hübsche Allegorie. Weil Richard ahnt, dass er in eine andere Pflegefamilie verpflanzt werden soll, büxt er in die Kreisstadt aus, wo sich erst kurz zuvor einige Fußballer der Weltmeistermannschaft mit Heilbädern und Minigolfspiel von der Gelbsucht erholt haben. Im Kurpark macht er die flüchtige Bekanntschaft eines jungen Mannes und vertraut sich ihm an. Der, vielleicht ist es sogar der Erzähler selbst, redet ihm gut zu und überlässt dem fröstelnden Jungen auch noch seinen Mantel. Entschieden zu groß zwar für Richard, aber er wird schon hineinwachsen.

Ulrich Rüdenauer: Abseits. ­Berenberg-Verlag, Berlin 2024, 192 Seiten, 22 Euro

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