Ebbe und Flut
Von Karl WimmlerUnter dem Titel »Die Revolution der gebenden Hand« startete der Philosoph Peter Sloterdijk 2009 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einem angeblichen »Rousseauschen Mythos«, wanderte über einen »Marxschen Verdacht« zu »einer allgemeinen Theorie des Diebstahls«, um dann die »moralisierende Stilisierung« des Kapitalismus zu bedauern, der schlimmerweise »zu einem politischen Kampfwort und systemischen Schimpfwort« geworden sei. Denn das Geheimnis »der modernen Wirtschaftsweise« sei nicht etwa das dem Kapitalismus immanente Profitprinzip des Kapitals, aus Geld mehr Geld zu machen, sondern »verbirgt (…) sich (vielmehr) in der antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern«. Daher sei »die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers (…) der psychische Reflex des Zinsenstresses«. Und den bedauernswert faustisch Unruhigen, den »Leistungsträgerkern der deutschen Population« bzw. »das obere Zwanzigstel der Leistungsträger«, die »gut 40 Prozent des Gesamtaufkommens an Einkommensteuern erbringen« (»gebende Hand«), die rief Sloterdijk zur »Revolution«. Man müsse weg von der »hässlichen Zwangsabgabe« Steuer, so im Handelsblatt, hin zur »Schönheit des Gebens«. Weg insbesondere mit »der progressiven Einkommenssteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung«. Damit die »Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven« ein Ende habe (produktiv seien die Zahler von Steuer auf ihr Einkommen, unproduktiv die armen Schlucker). Und so weiter.
Da war die Aufregung wieder groß im deutschsprachigen Feuilleton und Hinz und Kunz gaben ihren Senf dazu. Wie zehn Jahre zuvor, 1999, als Sloterdijk – die »Gen-Debatten« hatten grade ihren ersten Hype – »Regeln für den Menschenpark« aufstellen wollte und nur Nietzsches Herrenmenschen als Farce wiederauferstehen ließ. Kein Hahn kräht heute danach. Seinen Steuerunfug ereilte dieses Schicksal ebenso rasch. Dass sich Sloterdijk durch seine »schlampige Art zu denken und zu formulieren«, wie Rudolf Walther im Herbst 2010 schrieb, mittlerweile in Fachkreisen weithin disqualifiziert hat, ändert aber nach wie vor wenig an der medialen Wirkung und ideologischen Nützlichkeit für das herrschende Denken. Hat sein auch via TV verbreiteter Wortschwall einmal mit viel Getöse die Köpfe umnebelt, dauert es viel zu lange, bis die Sicht wieder klarer wird. Und Kollateralschäden bleiben. Vielleicht heute weniger als vor knapp vier Dekaden. Im Herbst 1983 qualifizierte Werner Sauer, Universitätsprofessor für Philosophie an der Universität Graz, Sloterdijks erstes gehyptes Werk »Kritik der zynischen Vernunft« als »wieder so ein Sensationsbuch«. Und er führte den Beweis, dass mit diesem Werk das ideologische Unterfutter geliefert wurde für den Kurswechsel der im Kampf gegen die herrschende Ordnung gescheiterten Intellektuellen der Jahre 1968 ff. hin zur, in Sloterdijks Worten, »Gefühlslogik und der Mystik, der Meditation und der Selbstbesinnung, des Mythos und des magischen Weltbildes« und jener »Phasen und Zustände des Seins« wie »Ebbe und Flut«, »Freude und Trauer«. Sloterdijk: »Im Verhältnis zu diesen Rhythmen gibt es für den Menschen nur eine gültige Haltung: Hingabe. Verstehen heißt einverstanden sein. Wer sieht, dass die Welt Harmonie in der Zerrissenheit ist, wird dagegen nicht kämpfen.« Sauer fasste zitierend zusammen: »Das einzig Greifbare an Sloterdijks Hinweisen in Richtung auf das ›ganz Andere‹ ist ohnehin nur die stets wiederkehrende Phraseologie der Hingabe und des Nicht-Kämpfens, das ›Unterlassungshandeln‹, ›Geschehenlassen‹, die ›Nicht-Praxis‹ usw. als mögliche Quellen ›höherer Einsichtsqualitäten‹«.
Wer »Einsichtsqualitäten« vorgaukelt, wo nur Rechtfertigung herrschenden Leids und Unrechts bleibt, müsste normalerweise mit Abfuhr und Hohn rechnen. Das passierte Sloterdijk nicht allzu oft. Was blieb von all dem – im wahrsten Wortsinn – blendenden Schreiben? Pseudophilosophische Luftballons waren und sind in der medialen Öffentlichkeit zwischendurch immer wieder beliebt.
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Leserbrief von Günter Buhlke (28. Oktober 2024 um 17:02 Uhr)Ich bin Hinz und Kunz, der eine Meinung hat. Der Kern meiner Wortmeldung ist die Aussage im Artikel, dass 40 Prozent des Gesamtaufkommens an Vermögenssteuern die oben angesiedelten Leistungsträger leisten. Seit Jahrzehnten melden aber die offiziellen Statistiken, dass die Lohnsteuern der Unteren sowie ihre Anteile aus den Mehrwert- und Verbrauchssteuern über 80 Prozent den Staatshaushalt füllen. Die Oberen ergänzen den Haushalt zur erforderlichen Größe mit Krediten, die jedoch Zinsen erfordern. Damit die Volkswirtschaft und das Land nicht über Kreditzinsen aus den Fugen gerät, haben Wirtschaftswissenschaftler und Politiker die Kreditbremse eingeführt. Die Zahl 40 hat die Aufgabe, einen Heiligenschein über den Kapitalismus leuchten zu lassen.
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