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Aus: Ausgabe vom 16.11.2024, Seite 5 / Inland
Wahlprogramm der Armen

Zeugnis des Elends

Armutsbetroffene beschließen Wahlprogramm: Warme Mahlzeit am Tag, Dach über dem Kopf und Krankenversicherung
Von Niki Uhlmann
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Eine Menschenschlange vor der Münchner Tafel. Oft bleibt Armutsbetroffenen sonst nur billiger Industriefraß

Jedes Jahr organisiert der Zusammenschluss »Nationale Armutskonferenz« (NAK) das Treffen der Menschen mit Armutserfahrung. Am Donnerstag und Freitag kamen in der Berliner Zentrale der Diakonie Deutschland mehr als 100 Engagierte zum bislang 17. Treffen zusammen – um ein eigenes Wahlprogramm zu verabschieden. Denn sie wissen: Armen drohen Nullrunde, härtere Sanktionen, steigende Preise, öffentliche Verleumdung. Aber: Jeder Mensch verdiene eine warme Mahlzeit am Tag, ein Dach über dem Kopf und eine Krankenversicherung, heißt es in der Pressemitteilung der NAK.

Dass das Wahlprogramm bei politisch Verantwortlichen Gehör findet, bezweifeln viele der Anwesenden. »Wir werden die Prügelknaben im nächsten Wahlkampf sein«, befürchtet Thomas Wasilewski, selbst Armutsbetroffener, der für eine Erhöhung des Bürgergelds in Düsseldorf klagt, gegenüber jW. »Man hat den Bürgergeldbezieher zum Feindbild gemacht.« Gezielt erkläre man die »Schwächsten in dieser Gesellschaft« für Missstände verantwortlich. Dass seit Jahren »auf den Sozialstaat mit dem Vorschlaghammer eingeschlagen« wird, hätte auch die Bevölkerung radikalisiert. Immer häufiger werde er beleidigt als »Parasit oder Asozialer«.

In der BRD leben 14,2 Millionen Menschen in Armut – fast 17 Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte in seinem Armutsbericht 2024 im März dokumentiert, wer besonders betroffen ist: Alleinerziehende, Haushalte mit drei oder mehr Kindern, Menschen mit Migrationshintergrund und Frauen öfter als Männer. Auffälliges Detail: Nur jeder zwanzigste und immer weniger Armutsbetroffene sind erwerbslos. Viele sind arm trotz Arbeit.

Wie die Teilnehmer der Konferenz offenlegen, sind die Gründe für Armut sehr vielfältig. Bei einem Pressegespräch am Freitag erklärte etwa Gisela Breuhaus, dass sie arm sei, weil sie jahrelang ihren Vater gepflegt und dafür kaum staatliche Leistungen erhalten habe. Diese Armut drohe angesichts des demographischen Wandels vielen. Karsten Dunzweiler berichtete, dass er aufgrund vorübergehender Obdachlosigkeit Briefe der Versicherung nicht erhalten habe und bald darauf auf einem fünfstelligen Schuldenberg saß. Obendrein unterließen es Kommunen, Obdachlose zu melden. Dadurch entstünde ein fiktiver Schuldenberg. Die Folge: Verlust des Versicherungsschutzes. Erwerbsunfähigkeit, Frührente oder Entlassung im höheren Alter gaben andere an.

Genauso vielfältig sind die Probleme prekär lebender Menschen, die oft zur Armutsfalle werden. Beispielweise hatte Dunzweiler Glück im Unglück und konnte sich der Versicherung gegenüber kurz vor dem finanziellen Ruin erklären. Andere Obdachlose bekämen wegen Verschuldung gar keine Wohnung mehr. Beschäftigung sei dann samt Lohn ausgeschlossen. Dasselbe droht, wenn das Geld nicht für einen Internetzugang oder ein Bahnticket reicht. Hinzu kommt Mangelernährung. Ein Gutachten im Auftrag der Gruppe Die Linke im Bundestag war Ende 2023 zum Ergebnis gekommen, dass das Bürgergeld gegen das Menschenrecht auf angemessene Ernährung verstößt.

Michael Stiefel, ein Koordinator der NAK, stellte ernüchternd fest: »Wir dringen nicht durch«, obwohl die Forderungen des Wahlprogramms »weit in die Gesellschaft hinein konsensfähig« seien. Die Richtigstellung der Betroffenen und Verbände würden aber weder populistische Politiker noch ihre Zielgruppen erreichen. Wasilewski weiß, warum das so ist: »Ich kann wählen, wen ich will, und werde in diesem Land nichts verändern. Ich habe keinen Einfluss: null Komma null!« Wäre er aber Aktionär des Kriegskonzerns Rheinmetall, könnte er mit Geldscheinen winken, und die Politiker würden spuren. »Ich habe aber nichts, womit ich winken kann.«

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