Schreiben, um zu verstehen
Von Erich Hackl»El temps de les cireres« ist der zweite Teil einer Trilogie, die Montserrat Roig ab den späten siebziger Jahren auch außerhalb Kataloniens bekannt gemacht hat. Alle drei Romane handeln vom Bemühen der Protagonistinnen, die Schranken ihrer Herkunftsklasse, des katalanischen Bürgertums, zu durchbrechen und eine freie, selbstbestimmte Existenz zu führen. Dabei ist ihnen nicht nur das tradierte Frauenbild hinderlich, sondern auch ihre Weigerung, auf die familiären Privilegien zu verzichten. Das gilt sogar für die radikalste, am wenigsten kompromissbereite von ihnen, die 36jährige Fotografin Natàlia Miralpeix, die im März 1974 – zwei Tage nach der Hinrichtung des Anarchisten Salvador Puig Antich – in Barcelona eintrifft. Von dort war sie zwölf Jahre zuvor ins Ausland aufgebrochen, aus Groll über den autoritären Vater, die Doppelmoral der Familie und die Verlogenheit, mit der ihr soziales Umfeld es sich in den Nischen des Regimes bequem gemacht hatte, aber auch aus Angst, im Widerstand gegen das Regime die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.
Der Titel des Romans spielt auf das berühmte Liebeslied von Jean-Baptiste Clément und Antoine Renard an, das nach der Niederlage der Pariser Kommune 1871 eine neue, politisch hoffnungsvolle Deutung erfahren hatte. Es durchzieht den Roman wie ein Leitmotiv und wird seinem Inhalt doppelt gerecht. Zum einen, weil die Autorin dem privaten und dem gesellschaftlichen Leben ihrer Protagonistin die gleiche Bedeutung beimisst, und zum andern, weil sie sich nicht vor der Frage drückt, wie es um die politischen Verhältnisse in Barcelona, in Katalonien und in ganz Spanien bestellt ist, 1962, 1974 und 1976, dem Jahr, in dem Roig den Roman beendet hat.
Natàlia will nach ihrer Rückkehr aus London mit der eigenen Familie ins reine kommen, und sie möchte erkennen, ob und wie die katalanische Metropole sich während ihrer Abwesenheit verändert hat. Wenn man bedenkt, dass Roig damals, als sie diesen und die beiden anderen Romane der Trilogie verfasst hat, Mitglied des illegalen kommunistischen PSUC gewesen ist, fällt der Befund ihrer Protagonistin reichlich pessimistisch aus. Neu ist der Lärm in Barcelona, neu ist auch, dass die Bauarbeiter Helme tragen, dass es keine Straßenbahnen mehr gibt und dass Bankfilialen Bars und Cafés geschluckt haben. Neu, und viel schlimmer, ist aber auch, dass die Erwachsenen sich offensichtlich mit den Verhältnissen abgefunden haben und die Jugendlichen nicht einmal mehr wissen, wer Julián Grimau war, der Kommunist, gegen dessen Hinrichtung Natàlia und ihre Freunde seinerzeit demonstriert hatten. Den Jungen geht es nicht um kollektive Befreiung, sie streben nach individueller Erfüllung. »Die Zeit der Kirschen« vermag sie nicht zu locken. So gesehen, nahm Roigs Roman in seinem Erscheinungsjahr 1977 die Stimmung des »desencanto« vorweg, die sich in Spanien eigentlich erst Anfang der achtziger Jahre einstellen sollte – die Ernüchterung einer Generation von Oppositionellen, die sich von der Demokratie mehr erwartet hatte als Realpolitik mit Deindustrialisierung, Bereicherungsgarantie und Beschaffungskriminalität.
Man merkt dem Roman an, dass er von einer Journalistin verfasst wurde, die es gewohnt war, rasch zu arbeiten und nicht jedes Wort und jeden Satz auf die Waagschale zu legen. Dabei gelingen der viel zu früh, mit 45 Jahren, verstorbenen Autorin immer wieder literarische Kunststücke – so wenn sie in der Beschreibung von Händen, denen von Natàlias Tante Patrícia, ein ganzes Leben abbildet, im Ablauf einer harmlos beginnenden, orgiastisch endenden Tupperparty auf sexualisierte Gewalt in einer Klosterschule verweist, bei einer Hochzeitsfeier in einer Eckkneipe die grotesken ebenso wie die vitalen Züge andalusischer Einwanderer beobachtet oder die Demütigung einer abtreibungswilligen Schwangeren durch einen hochmütigen Gynäkologen schildert.
Eindrucksvoll ist auch das Bild, das Roig von Natàlias Vater zeichnet, einem aus Hast und Gier schuldig gewordenen Baumeister, der nach drei Jahren in einem frankistischen Arbeitslager seinen revolutionären Überzeugungen abgeschworen hatte. Montserrat Roig kommt, das soll hier nicht vergessen werden, das große Verdienst zu, als erste aus der Nachkriegsgeneration über ihre Landsleute geschrieben zu haben, die als »Rotspanier« nach Mauthausen deportiert worden waren. Das Ergebnis ihrer Nachforschungen hat sich nicht nur in zahlreichen Interviews und Einzeldarstellungen, sondern auch in dem bahnbrechenden Werk »Els catalans als camps nazis« (1977) niedergeschlagen. Für dieses Buch trifft zu, was Roig als Antrieb ihres gesamten Schaffens, also auch des vorliegenden Romans, genannt hat: »Wenn ich etwas schreibe, dann deshalb, weil ich nicht verstehe, was ich sehe.«
Der Roman ist, wie sein Vorgänger »Die Frauen vom Café Núria« und der für das nächste Frühjahr angekündigte abschließende Band »Die violette Stunde«, schon einmal auf Deutsch veröffentlicht worden, Anfang der neunziger Jahre und unter einem Titel, der dem Original mehr entsprach als der jetzige. Neu ist auch die Übersetzung. Nach deren Lektüre fragt man sich, warum der Verlag Antje Kunstmann die schon vorhandene von Volker Glab, damals noch für den Elster-Verlag, verworfen hat. Bei Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt kommt einem jedenfalls das Grauen, sooft sie teutonische Ausdrücke wie »gucken«, »aus dem Ruder laufen« oder »Rotweinschorle« spanischen Verhältnissen oktroyieren. Eine Radionovela ist entgegen ihrer Auffassung keine »Radio-Seifenoper«, sondern schlicht ein Hörspiel und der »Geruch von schimmligem Holz« in Wirklichkeit »der klebrige Schweiß« auf dem Holz abgenutzter Theaterstühle. Und was soll die Behauptung, dass der Taxifahrer, der Natàlia vom Flughafen in die Stadt bringt, »aus der Provinz Murcia, genauer gesagt aus Albacete« stammte und Katalanisch »mit valencianischem Zungenschlag« redete? In der spanischen Ausgabe habe ich den Unsinn – Albacete liegt nicht in Murcia, sondern in der Mancha – nicht gefunden. Und der »valencianische Zungenschlag« erweist sich als Akzent eines »charnego«, wie die abfällige Bezeichnung lautet, mit der katalanische Herrenmenschen über Jahrzehnte kastilischsprachige Arbeitsimmigranten verhöhnt haben.
Montserrat Roig: Als wir von den Kirschen sangen. Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt. Verlag Antje Kunstmann, München 2024, 285 Seiten, 26 Euro
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