Ringen um Ausdruck
Von Marc PüschelEhrentitel werden oft vergeben. Irgendein wohlmeinender Freund, akademischer Laudator oder geschäftstüchtiger Verleger findet sich ja immer. Hängen bleiben sie an den wenigsten. Als Anfang des 17. Jahrhunderts der Arzt Balthasar Walther seinen Freund Jacob Böhme als »Philosophus Teutonicus« bezeichnete, war nicht abzusehen, dass der Name sich einbürgern sollte. Der Ruhm hielt, bis zu Hegel noch, für den Böhme der erste deutsche Philosoph überhaupt ist, durch den »in Deutschland Philosophie erst mit einem eigentümlichen Charakter hervorgetreten« sei. Noch verwunderlicher aber, wer da in solch hohen Rang gehoben wurde: kein Professor, kein akademisch Gelehrter, ein einfacher Schuster aus der Lausitz, ein philosophischer Dilettant.
Geboren wurde Jacob Böhme 1575 (das genaue Datum ist unbekannt) in dem Dorf Alt-Seidenberg, das an der Grenze zu Böhmen lag. Seine Eltern waren Bauern mit einigem Grundbesitz. Da sie ihm aufgrund seiner schwachen Konstitution die Landwirtschaft nicht zutrauten, schickten sie den Sohn in die Schusterlehre. Böhme ging ins nahegelegene Görlitz, wurde dort in die Schuhmacherinnung aufgenommen und erhielt im April 1599 die Bürgerurkunde. Im Mai desselben Jahres heiratete er Katharina Kuntzschmann und kaufte ein Haus auf dem Töpferberg. Äußerlich war Böhme nichts weiter als ein tüchtiger kleinstädtischer Handwerker. Doch im Innern gärte es.
Luthers Geister
Der Protestantismus hatte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch als Institution gefestigt, die Geister aber, die Luther mit seiner Ablehnung äußerer Glaubensautoritäten und seiner Berufung auf die Innerlichkeit des Gottesbezugs heraufbeschworen hatte, wurde er nicht los. Die »Freiheit des Christenmenschen« konnte rasch umschlagen in subjektive Beliebigkeit, erste Formen mystisch-religiöser Bewegungen entstanden. Die Rosenkreuzer, die sich im 18. Jahrhundert zu Geheimgesellschaften formierten, gehen im wesentlichen auf Schriften zurück, die in den Jahren um 1614/15 in Deutschland erschienen. Insbesondere in Mitteldeutschland, in der Lausitz und in Schlesien machten sich mystische Strömungen breit, die das noch in den Kinderschuhen steckende naturkundliche Wissen der Zeit mit religiösem Denken zusammenbringen wollten.
Auch bei Böhme ist es allein der innere Gottesbezug, der zählt. Sein späterer Biograph Abraham von Franckenberg überlieferte Ereignisse aus der Jugendzeit, die eine mystische Aura um das Leben Böhmes legen sollten, äußerlich betrachtet allerdings völlig banal scheinen: ein Fremder, der den jungen Lehrling unerwartet beim Namen anspricht, das Finden einer Geldbörse in einer Höhle usw. Auch das eigentliche Erweckungserlebnis ist äußerlich unspektakulär. Beim Anblick eines im Licht schimmernden Zinngefäßes sei Böhme von Gott »zu dem innersten Grunde oder centro der geheimen Natur eingeführet« worden. Dieser Vorfall in der Schusterstube, der in das Jahr 1610 fiel, wurde zum Anlass, Eingebungen zu sammeln und schließlich 1612 innerhalb von ein paar Monaten niederzuschreiben. Das Resultat ist Böhmes Haupt- und Erstlingswerk »Morgenröte im Aufgang« (der ganze, barocke Titel geht über eine halbe Buchseite), späterhin oft einfach »Aurora« genannt.
Böhme betont darin immer wieder: »Jch habe dasselbe auch nicht studiret und gelernet / und lasse daßelbe die gelaerten handeln (…) und bin ein Philosophus der Einfaeltigen.« Doch diese Bescheidenheit ist zumindest teilweise Koketterie. Es war geradezu in Mode, gegenüber der büchergelehrten Scholastik auf die rein innerliche, von Gott gegebene Erkenntnis zu verweisen. Ganz ungelehrt war der Schuster nicht, wie er selbst an einer Stelle zugibt: »Jch habe viel hoher Meister Schrifften gelesen / in hoffnung den grund und die rechte tieffe darinnen zu finden / aber ich habe nichts funden als einen halb todten geist …«
Sein fehlender Anschluss an die akademische Welt machte sich allerdings dadurch bemerkbar, dass der Schuster das Werk nicht drucken lassen konnte. Wirkung machte es dennoch. Der Freund Karl Ender von Sercha bekam es in die Hände, sorgte für Abschriften, die er, wohl ohne das Wissen Böhmes, in Umlauf brachte. Ein Exemplar gelangte zum Görlitzer Oberpfarrer Gregor Richter, einem strengen Lutheraner, der daraufhin veranlasste, dass Böhme im Juli 1613 im Rathaus vorgeladen und kurzzeitig inhaftiert wurde. Die Originalhandschrift der »Aurora« wurde beschlagnahmt, der Autor musste versprechen, das Schreiben sein zu lassen. Böhme bekam sein Manuskript nicht mehr zu Gesicht, gedruckt wurde es erst lange nach seinem Tod.
Geistiges Morgenrot
Man bezeichnet ihn gerne als Mystiker, und in dem Sinne, dass er nach eigenem Verständnis sein Wissen allein aus einem innerlichen, sozusagen geheimen Bezug auf sich und auf Gott holt, ist Böhme das in der Tat. Zugleich aber, wie Ludwig Feuerbach in seiner Philosophiegeschichte treffend formuliert, »ein Mystiker, der spekuliert, der innerhalb der Mystik nach Freiheit von Mystizismus, nach klarer Erkenntnis ringt«. Und was erkannt werden sollte, war schlicht alles. Die »Morgenröte im Aufgang«, dem Anspruch nach Philosophie, Astrologie und Theologie in einem, handelt von »der goettlichen krafft / waß Gott sey / und wie im wesen Gottes die Natur / sternen und elementa beschaffen seind / und woher alle ding seinen ursprung hat / wie himmel und erden beschaffen seind / auch Engel / Menschen und teuffel / darzu himmel und hoelle / und alles was creaturlich ist«.
Nun hatte Böhme diesen umfassenden Wissensanspruch nicht exklusiv, und auch sein fast pantheistisches Gottesverständnis – »wo du nur hinsiehest da ist Gott« – war wenig bemerkenswert. Neu und spektakulär hingegen, wie prozesshaft und dialektisch Böhme die Entstehung der Welt dachte. Ausgerechnet der Schuster überwand die Vorstellung, die Schöpfung sei eine Form von Handwerk, bei dem ein anthropomorph vorgestellter Gott Natur und Menschen herstellt. Vielmehr sei die Entstehung der Welt aus der inneren Dynamik des göttlichen Wesens verständlich. Gott ist für Böhme, wie er in seinem späteren Werk »Von sechs theosophischen Punkten« genauer ausführte, ein ewiger »Ungrund«, der Wille ist und sich daher selbst gebiert. Gottes Wesen wird nicht einfach vorausgesetzt, Böhme versucht, ihn als einen Prozess zu verstehen, der sich und seine Dreifaltigkeit selbst hervorbringt.
Die Dreifaltigkeit wiederum wird zum Strukturmoment nicht nur Gottes, sondern auch der Natur: »also siehestu auch die Dreyheit der Gottheit in holtz und steinen / so wol in kraut / laub und graß / allein das dasselbe alles irdisch ist«. Es gebe »nichts in der Natur / da nicht gutes und boeses innen ist / es wallet und lebet alles in diesem zweyfachen trieb / es sey waß es wolle«. So wird die Grundstruktur der Welt wesentlich als dialektische Entwicklung aufgefasst, auch wenn unklar bleibt, wie sich die Dreiheit zur Dualität von Gut und Böse, »die in dieser welt in allen kraefften / in sternen und elementen, so wol in allen creaturen in einander seind«, genau verhält.
Immerhin stellt sich Böhme dem vielleicht wichtigsten theologischen Problem: Welchen Status hat das Böse, wenn es nur einen, und zwar guten, Gott gibt? Böhme versucht die Frage zu lösen, indem er Gott als etwas begreift, das sein Negatives in sich hat – es ist sein größter Gedanke und zugleich derjenige, mit dem er am meisten gerungen hat. Die Antworten, die er gibt, sind weitschweifig und oft konfus, doch sie laufen letztlich darauf hinaus, einen schon immer in Gott liegenden Zorn anzunehmen, der zunächst »neutral« ist und aus dem erst im Laufe eines dialektischen Entwicklungsprozesses das Böse herauswächst: »Die ernste und strenge geburth / darauß der Zorn Gottes / die Hoelle und der Todt ist worden / die ist wol von ewigkeit in Gott gewesen / aber nicht anzuendlich oder erheblich.« Dialektische Grundfiguren wie die immanente Negativität oder der Gang vom bloßen An-sich-Sein zum Für-sich-Sein, wie sie Hegel später entwickeln wird, deuten sich hier bereits an.
In die konkreten Prozesse der Schöpfung und der Welt, die Böhme über Hunderte Seiten ausbreitet, kann man ihm jedoch, der Genialität seiner Grundgedanken zum Trotz, kaum folgen. Nicht nur fehlt ihm jede Methode und Ordnung, auch seine Sprache ist sehr gewöhnungsbedürftig. Ein festes philosophisches oder wissenschaftliches Vokabular hatte er nicht bei der Hand, Bilder und Gleichnisse ersetzen oft das Begriffliche. Eine Art Privatetymologie trägt ihr übriges zur Verwirrung bei.
Mitunter scheint aber gerade durch den eigenwilligen Sprachgebrauch oft wieder Böhmes Sinn für Dialektik durch. Den Begriff Qualität etwa bezieht er nicht auf das lateinische qualitas (Beschaffenheit, Eigenschaft), sondern auf den Vorgang des (Hervor-)Quellens einerseits und Qual andererseits. So wird die eigentlich statische Zuschreibung einer Eigenschaft zu etwas Prozesshaftem: »Qualitaet ist die bewegligkeit / quallen oder treiben eines dinges / als da ist die hitze / die brennet / verzehret und treibet alles / das in sie kompt / das nicht jhrer eigenschafft ist.« Böhme geht dabei von sieben Qualitäten bzw. »Quellgeistern« aus, die sieben Naturkräften bzw. Grundformen der Bewegung entsprechen, etwa das Herbe als das Zusammenziehende, das Bittere als das Zerschneidende und andere Kräfte wie Hitze, Licht und Schall.
In den genaueren Ausführungen zu diesen Qualitäten/Quellgeister vermischen sich Alchemie und Religion, Spekulation und naturkundliches Wissen untrennbar – Böhme ist hier ganz Kind seiner Zeit und Weltgegend. Das quantitativ-empirische und mathematische Denken war ihm noch fremd, zumal die berühmtesten Werke Galileo Galileis, mit denen das neue Weltbild und Methodenverständnis zum Durchbruch kamen, erst nach Böhmes Tod entstanden. Statt dessen war der wichtigste Einfluss wohl das Werk des Arztes und Alchemisten Paracelsus, das in Schlesien viel gelesen wurde. Entsprechend fremd wirkt daher auch die alchemistisch-spirituelle Prägung der Schriften Böhmes. Doch richtet man die Aufmerksamkeit auf seine Grundintention, bleibt, wie Ernst Bloch es in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance ausdrückte, »die erste objektive Dialektik seit Heraklit«.
Reale Kämpfe
Aber wer las all diese hochspekulativen Gedanken? In Böhmes Fall fällt die Antwort leicht: Es waren fast durchweg Adlige. Die Gönner und frühen Rezipienten Böhmes, wie der erwähnte Karl Ender von Sercha, entstammen mehrheitlich dem schlesischen und Lausitzer Adel. Das hatte zunächst ganz praktische Gründe. Böhme war kein Redner, der Laien anzog, und seine dicken Wälzer (die moderne Ausgabe der »Aurora«¹ hat 500 Seiten) setzten ein Publikum voraus, das gebildet war, viel Zeit hatte und eine gewisse Unabhängigkeit von der städtischen lutheranischen Orthodoxie besaß. Abgesehen davon, dass Böhmes Werk den mystisch-alchemistischen Nerv seiner Zeit traf, besaß die Absetzbewegung vom etablierten Protestantismus außerdem eine gewisse politische Attraktivität für den mitteldeutschen Adel. Der Augsburger Religionsfriede lag Jahrzehnte zurück, im Norden wuchs mit Dänemark und Schweden ein protestantischer Machtblock heran, und die Spannungen mit den katholischen Habsburgern nahmen zu. Wollte man nicht im Machtkampf zerrieben werden, war es vielleicht besser, sich vorerst auf keine konfessionelle Seite zu schlagen.
Auch ökonomisch handelte Böhme im Sinne des Adels, wobei man diesem Aspekt nicht zuviel Bedeutung beimessen darf. Im März 1613 verkaufte er seinen Schusterbetrieb in Görlitz und verlegte sich zusammen mit seiner Frau auf den Garnhandel, der ihm nicht nur bessere Einkünfte verschaffte, sondern der auch viele Geschäftsreisen erforderte, die ihm wiederum ermöglichten, mit seinen Förderern auf dem Land in Kontakt zu treten. In der Zeit begannen viele Gutsherren in Schlesien, ländliche Gewerbe aufzubauen. Das dort gesponnene Garn schaffte Böhme nach Görlitz, wo er es auf dem Schwarzmarkt an Weber verkaufte. Der städtische Rat, der sich gegen diese Einfuhr ländlicher Fabrikate mit Verboten zu wehren versuchte, ermittelte gegen Böhme und sprach in mindestens einem Fall auch eine Strafzahlung wegen unerlaubten Garnhandels aus.
Der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges gefährdete dieses Geschäftsmodell. Die Wirtschaft blieb zwar zunächst von Plünderungen und Steuererhebungen verschont, doch es war klar, dass sich der Wind drehen würde. Böhme selbst wurde auf einer Geschäftsreise Ende Oktober 1619 in Prag Zeuge, wie der calvinistische Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz in die Stadt einzog. Am 4. November ließ sich dieser Regionalgeist zu Pferde zum König von Böhmen krönen, die Rache der Habsburger und der katholischen Liga war gewiss.
Für Böhme ein Anlass, sich in die Schreibstube zurückzuziehen. Wenn der Garnhandel wegbrechen würde, blieben nur noch die adligen Gönner seiner Schreibarbeit bzw. der Verkauf seiner Schriften übrig. Dazu brauchte es aber mehr als nur die »Aurora«. Auch ideelle Gründe bewegten ihn. 1619 erlebte Böhme in Görlitz den Einsturz einer Brücke über die Neiße mit. Laut Eigenaussage soll er sogar auf ihr gestanden und nur durch ein Wunder überlebt haben – ein weiteres Erweckungserlebnis.
In der Folge stürzte Böhme sich geradezu manisch ins Schreiben. Von 1619 bis zu seinem Tod schrieb er ununterbrochen, stellte alle paar Monate ein neues Werk mit Hunderten Seiten fertig, darunter »Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens«, »Von der Menschwerdung Jesu Christi«, die »Sechs theosophischen Punkte« und »De signatura rerum«. Inhaltlich ist dabei letztlich vieles redundant, doch das Bedürfnis, sich in immer neuen Bildern und Formulierungen verständlich zu machen, trieb Böhme voran. Es gibt wenige Denker der Geschichte, bei denen man einen solchen existentiellen Drang spürt.
Böhme hatte erstaunlichen Erfolg damit. Auf seinen Reisen durch Schlesien begegnete er nicht nur Abraham von Franckenberg und anderen begeisterten Lesern, sondern wurde 1624 dank der Vermittlung niederschlesischer Adliger sogar von dem kurfürstlichen Geheimen Rat Joachim von Loß auf Schloss Pillnitz bei Dresden eingeladen. Die erhoffte Audienz bei Kurfürst Johann Georg von Sachsen kam jedoch nicht zustande.
Für Böhme wäre der mächtige Kurfürst, der als Bündnispartner des Kaisers seit 1620 die Lausitz besetzt hielt, eine wichtige Stütze gewesen in seinen eigenen Kämpfen, denn in seiner Heimatstadt eskalierte der Streit mit Gregor Richter. Von ihm angestachelte Gläubige warfen die Fenster von Böhmes Wohnhaus ein. Im März 1624 wurde Böhme erneut vor den Görlitzer Rat geladen, da er gegen das Schreibverbot verstoßen hatte, ging aber straffrei davon. Dafür rächte sich Richter mit einer umfassenden Schmähschrift. Dies wiederum war für Böhme nicht nur Unglück, denn schon damals zeitigte das »Canceln« oft einen gegenteiligen Effekt. Gerade der heftige Streit förderte die Verbreitung seiner Schriften, in einem Brief an einen Freund frohlockte Böhme, dass »jetzt fast jedermann, Adel und Gelehrte, auch einfältige Leute begehren zu lesen«.
Jacob Böhme nutzte das freilich nicht mehr viel. Angefeindet und krank, starb er in der Nacht zum 17. November 1624 in seiner Heimatstadt. Sein Begräbnis geriet zu einem unwürdigen Spektakel: Die Lutheraner verweigerten eine Totenpredigt, schließlich musste der Görlitzer Rat eine solche anordnen. Ein paar Tage später wurde Böhmes Grab verwüstet.
Nachwirken
In seiner Heimatstadt blieb die Stimmung feindselig, doch seine Anhänger fanden andere Wege, Böhmes Schriften zu verbreiten. In den Niederlanden, damals der in Sachen Publikationsfreiheit wohl liberalste Ort Europas, besorgte Heinrich Betke in den Jahren 1658 bis 1678 zahlreiche Drucke von Böhme-Schriften. Ab 1682 erschien sogar eine Gesamtausgabe in 15 Bänden, herausgegeben vom Mystiker Johann Georg Gichtel, der aus seiner Heimatstadt Regensburg ausgewiesen worden war. In Amsterdam entstand eine kleine, aber lebhafte Böhme-Gemeinde, darunter viele Deutsche, die wie Gichtel Probleme mit dem orthodoxen Luthertum bekommen hatten.
Von hier aus spaltete sich die Rezeption. Der äußerste Fall dürfte der in Leiden lebende Quirinus Kuhlmann sein, ein Mystiker und Dichter aus Breslau (heute Wrocław), der in den Bann Böhmes geriet und eine Schrift mit dem Titel »Neubegeisterter Böhme« verfasste. In der Folge zog er durch ganz Europa, um Anhänger um sich zu scharen und ihnen eine Lehre zu verkünden, die immer eigenwilligere Züge annahm. Als »Kühlmann« – quasi eine Art neuer Jesus – stehe er selbst an der Spitze einer christlichen »Kühlmonarchie«, die der Hitze des Teufels Widerstand leiste. Sein Mütchen an ihm gekühlt hat dann allerdings nicht Luzifer, sondern der orthodoxe Klerus, dem Kuhlmanns Missionierungsversuche in Russland auf die Nerven gingen. 1689 wurde er in Moskau lebendig verbrannt.
Eine andere, weniger irre Linie führte überraschenderweise nach England, wo früh eine Böhme-Begeisterung einsetzte. Ab 1645 waren seine Schriften ins Englische übersetzt, und bereits 1654 gab es eine erste, von Durand Hotham verfasste Böhme-Biographie. Die Rezeption zog weite Kreise, selbst der englische König Karl I. galt als Verehrer. Isaac Newton hat Böhme gelesen, ebenso wie in Deutschland Gottfried Wilhelm Leibniz.
Eine allzu starke Wirkung darf man Böhme deswegen jedoch nicht unterstellen. Konkrete Bezüge sind rar, und man müsste schon vieles hinzudichten, um geltend zu machen, dass er Leibniz’ oder Newtons Gedanken wirklich beeinflusst habe. Interessant blieb Böhme als Ausnahmeerscheinung, die zwar nicht auf begriffsscharfe, doch auf emphatische Weise vieles vorweggenommen hatte, was in der noch stark religiös geprägten Frühaufklärung gut ankam, etwa den Hang zu einer Art christlichem Pantheismus, der auch ein für die damalige Zeit bemerkenswertes Toleranzgebot beinhaltete: »Es leben die Türcken, Juden und Heyden ja auch in demselben Corpus, darinnen du lebest / und brauchen auch desselben Leibes krafft / die du brauchest / dazu haben sie auch denselben Leib / den du hast / und derselbe Gott / der dein Gott ist / ist auch ihr Gott.«
Im Laufe des 18. Jahrhunderts – die Aufklärung wurde zunehmend wissenschaftlicher und atheistischer bzw. agnostischer – verlor sich die Böhme-Rezeption. Erst mit der deutschen Romantik hob sie wieder an. Aus dem Unvermögen, die Welt in Begriffe zu fassen, sie noch vorrangig in Bilder und alchemistische Vorstellungen bringen zu müssen, wurde jetzt eine Tugend gemacht. Zu den eifrigsten Böhme-Schülern gehörten Novalis, Tieck, Franz von Baader und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der Böhme »eine Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit« nannte (Schellings Spätphilosophie baut wesentlich auf dem Böhmeschen Gedanken Gottes als einem »Ungrund«, der Wille ist, auf).
Nüchterner und differenzierter schätzte ihn Hegel ein: »Was Böhme auszeichnet und merkwürdig macht«, so heißt es in seinen Vorlesungen zur Philosophiegeschichte, ist das »protestantische Prinzip, die Intellektualwelt in das eigene Gemüt hereinzulegen und in seinem Selbstbewußtsein alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war.« Doch weil er »den Begriff nicht hat, so stellt sich dies als fürchterlicher, schmerzhafter Kampf vor; man hat das Gefühl des Ringens. Es ist eine barbarische Form der Darstellung und des Ausdrucks, – ein Kampf seines Gemüts.«
Über die Fruchtbarkeit und das Gelingen dieses Kampfes mag jeder Böhme-Leser selbst entscheiden. Was unbenommen davon bleibt, ist Böhmes Philosophie als Ausdruck eines Strebens, das immer faszinieren wird: in völliger Unabhängigkeit von jeglichen Institutionen und Autoritäten die Welt eigenständig zu begreifen.
Anmerkungen
1 Jacob Böhme: Morgen-Roete im Aufgang. Hg. v. Ferdinand van Ingen, Frankfurt a. M. 2009 (nach der Amsterdamer Druckausgabe von 1656)
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (17. November 2024 um 18:02 Uhr)Ein philosophischer Dilettant Jacob Böhme, ein schlichter Schuhmacher aus der Lausitz, erlangte unerwartet Ruhm als philosophischer Denker und Mystiker. Ohne akademische Bildung entwickelte er eine spekulative, stark dialektische Philosophie, die Gott und die Welt als prozesshafte Dynamik auffasste. Sein Hauptwerk, die »Aurora« (1612), verbindet religiöse Mystik mit naturphilosophischen Ansätzen und postuliert einen Gott, der seinen eigenen »Ungrund« durchlebt, in dem Gutes und Böses wurzeln. Böhmes Werke, geprägt von seinem autodidaktischen Zugang, alchemistischen Einflüssen und einer oft verwirrenden Sprache, fanden vor allem unter Adligen und später in der deutschen Romantik Anklang. Seine Gedanken beeinflussten u. a. Novalis, Schelling und Hegel, die seinen »inneren Kampf« um Erkenntnis schätzten. Trotz Anfeindungen und der begrenzten Verbreitung zu Lebzeiten bleibt er ein faszinierender Außenseiter der Philosophiegeschichte.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (16. November 2024 um 07:37 Uhr)Marc Püschel ist ein sehr berührender Artikel über Jakob Böhme gelungen. Das hat viel damit zu tun, dass er seine über die Zeit hinausreichenden Leistungen herausarbeitet, ohne den heute so üblichen Zeigefinger zu erheben, wenn einer auch im Denken seiner Epoche gefangen ist. Und was mir besonders gefällt: Der Artikel sprüht geradezu vor Begeisterung darüber, dass ein einfacher Mensch aus dem Volke zu solchen Leistungen fähig war. Heutigem Denken ist dagegen weitgehend entfallen, welch großen schöpferischen Potenzen in den Massen schlummern und wie revolutionär sie sich Bahn brechen können, wenn sie auf günstige Umstände treffen. Für nicht wenige ist es zur Dauerübung geworden, über die tumbe Masse zu spotten, »die sich mit Bild und Glotze regieren lässt«. Jakob Böhmes Leistungen zeigen anschaulich, wie oft in diesem Falle geistige Zwerge über Riesen spotten.