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Aus: Ausgabe vom 16.11.2024, Seite 15 / Geschichte
Nordirlandkonflikt

»Birmingham Six«

Bei einem Anschlag der IRA in Birmingham vor 50 Jahren starben 21 Menschen. Dafür verurteilt wurden Unschuldige
Von Dieter Reinisch
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Die »Birmingham Six«: John Walker, Patrick Hill, Hugh Callaghan, Richard McIlkenny, Gerry Hunter und William Power am 14. März 1991 nach dem Freispruch. In der Mitte (mit Schal) Chris Mullen

Es war der tödlichste Anschlag in England während des Nordirlandkonflikts im Zeitraum von 1968 bis 2005. Am 21. November 1974 starben bei zwei Bombenanschlägen der Irish Republican Army (IRA) auf Pubs der mittelenglischen Stadt Birmingham 21 Menschen.

Nach den Anschlägen wurden sechs irische Männer verhaftet, die in der Gegend lebten. Man schlug sie so lange, bis sie Geständnisse unterzeichneten. Erhebliche Zweifel an ihrer Schuld äußerte unter anderem Chris Mullin, ein Journalist und späterer Parlamentsabgeordneter für die Labour Party. Die als »Birmingham Six« bekannt gewordenen Inhaftierten saßen von 1975 bis 1991 im Gefängnis, bis ihre Verurteilungen schließlich von einem britischen Berufungsgericht aufgehoben wurden.

Vielen gilt der Prozess als größter Justizskandal in der jüngeren Geschichte Großbritanniens. Doch die »Birmingham Six« waren nicht die einzigen, die in diesem Jahr fälschlicherweise verurteilt wurden und viele Jahre in Haft verbringen mussten. Insgesamt wurden 1974 18 Iren wegen angeblicher IRA-Anschläge verhaftet – alle unschuldig, und ihre Verurteilungen wurden erst nach Jahren aufgehoben.

In den englischen Midlands gab es eine große irische Gemeinde. Während viele Iren während der sogenannten Großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts in die Industriegebiete von Nordostengland rund um Liverpool und Manchester sowie nach Glasgow an der schottischen Ostküste zogen, setzte nach 1945 eine verstärkte Einwanderung ins englische Zentrum ein. Zahlreiche Menschen irischer Abstammung kamen als Bauarbeiter, wurden Mitarbeiter im öffentlichen Verkehrsservice oder arbeiteten als Pflegerinnen im neu entstandenen Gesundheitssystem NHS. Es war die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, und Iren waren billige Arbeitskräfte für den britischen Kapitalismus.

Offensive der IRA

1968 war der Krieg in Nordirland ausgebrochen, ein Jahr später die britische Armee in die Provinz entsandt worden. Die sich neu unter dem Namen »Provisional IRA« formierenden irischen Republikaner kämpften für soziale und politische Gleichstellung der von der protestantischen Mehrheit unterdrückten Katholiken und eine Wiedervereinigung der geteilten Insel auf demokratisch-sozialistischer Grund­lage.

Die IRA ging zunehmend in die Offensive, ab 1973 mit einer Bombenkampagne in England. Die republikanische Führung sah Angriffe in Großbritannien als effektiver für die Erringung ihrer Ziele an als die Kämpfe in Nordirland selbst. Nur direkte Angriffe würden zu einem Umschwung in der Haltung der englischen Bevölkerung führen, glaubten sie, weil nur so eine Massenbewegung gegen die Besatzung Nordirlands in England selbst herbeigeführt werden könne. Man schickte Einheiten nach England, und rekurtierte innerhalb der großen irischen Migrantengemeinde Kämpfer, tat also mehr, als bloß Geld zu sammeln, wie in den Jahren zuvor.

Am 8. März 1973 schlug die IRA erstmals in London zu. Der Anschlag mittels einer Autobombe galt dem Gerichtsgebäude Old Bailey. Durchgeführt wurde er von einer elfköpfigen Einheit, die der Belfast Brigade unterstellt war. Die Einheit zündete noch eine zweite Bombe, die vor dem Landwirtschaftsministerium in der Nähe von Whitehall in London explodierte. Ein britischer Zivilist starb an einem Herzinfarkt, der auf den Bomben­anschlag zurückgeführte. Schätzungen zufolge wurden bei den beiden Anschlägen 180 bis 220 Menschen verletzt. Die Polizei fand zwei weitere Bomben und entschärft diese. Sechs Monate später veurteilte man neun Personen aus Belfast wegen des Anschlags, darunter die Schwestern Dolours und Marian Price, die in den Hungerstreik traten, da sie forderten, in ein nordirisches Gefängnis überstellt zu werden. Sie wurden Hunderte Male brutal zwangsernährt.

Die Anschläge gingen trotz der Festnahmen weiter und erreichten 1974 ihren Höhepunkt. Im Februar wurde ein Bus mit Soldaten und deren Angehörigen auf der Autobahn M62 in die Luft gesprengt. Ein Dutzend Menschen starb. Die 25jährige Judith Ward wurde anschließend zu 30 Jahren Haft verurteilt. Auch sie war unschuldig, wie sich später herausstellte. »Die haben die völlig falschen Leute eingesperrt, und die IRA-Kampagne intensivierte sich nur noch weiter, je mehr Leute verhaftet wurden«, so der Journalist Mullin.

Der alte Rassismus

Eine Woche vor den Anschlägen in Birmingham gab es auch Bomben in Coventry. Nach den Anschlägen tobte eine Welle des antiirischen Rassismus durch England. Michael Flavin, Wissenschaftler am King’s College in London, der in Birmingham aufwuchs, erinnerte sich in einem Podcast zum 50. Jahrestag der Bombenkampagne: Es sei ein Ausbruch des alten, kolonialen Rassismus des sterbenden British Empire gewesen. Doch er betont, dass der Kampf der IRA selbst eine Reaktion auf die Jahrhunderte alte koloniale Unterdrückung durch dieses British Empire war: »Der alte Rassismus kam zurück an die Oberfläche.« Plötzlich und scharf wurde man »wieder aus der Gesellschaft ausgeschlossen«, so Flavin.

Nach dem Anschlag in Birmingham bestiegen fünf Iren im Hauptbahnhof der Stadt einen Zug, mit dem sie nach Belfast gelangen wollten. Sie wurden an der Westküste in Morecambe festgenommen. Mittels eines seinerzeit gebräuchlichen forensischen Vortests, der eine hohe Fehlerquote aufwies, wurden mutmaßliche Blutspuren bei zwei der festgenommenen Männer festgestellt. Ein aus Birmingham angereister Kommissar erfuhr davon und verhörte die Männer. Die zweitägigen gewaltsamen Verhöre führten zu erzwungenen Geständnissen von vier Personen. Einer der Verhafteten war Patrick Hill. Er behauptete später, die Polizisten hätten zu ihm gesagt: »Die Öffentlichkeit will, dass wir jemanden schnappen – egal, wer das ist.«

Kurz darauf verhaftete die Polizei die sogenannten Guildford Four, die für Bombenanschläge auf zwei Pubs in Guildford südwestlich von London verantwortlich gemacht wurden. Für Mullin ist ihr Fall »noch schockierender« als der der »Birmingham Six«, denn mittlerweile ist bekannt, dass die Polizei bereits am Tag nach ihrer Verhaftung von der Unschuld der Männer überzeugt war, aber deren Alibis verheimlichte.

Zeugnis der Folter

Wir nahmen den Zug und fuhren nach Crewe, wo wir, soweit ich mich erinnere, Pasteten bestellten, die in der neu eingetroffenen Mikrowelle aufgewärmt wurden, und von hier nach Morecambe. Dort kam die örtliche Polizei und befragte uns nach dem Bombenanschlag, von dem wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal wussten, dass er stattgefunden hatte. Nach den üblichen Fragen wurde ich freigelassen und ging nach draußen, um auf Dickie McIlkenny zu warten, mit dem ich eng befreundet war. Paddy Hill war bereits an Bord des Bootes, als die Polizei kam und uns zurückbrachte.

Sobald die West Midlands Police eintraf, wurde ich aus der Zelle geholt, und als ich den Korridor entlangging, wurde ich in den Rücken geschlagen und getreten. Die Würfel waren gefallen, und ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es 16 Jahre dauern würde, bis ich wieder einen Fuß auf die Straße setzen würde.

Ich fand mich im Gefängnis wieder und wusste nicht, was passiert war. Ich wurde täglich geschlagen, auch meine Zähne wurden ausgeschlagen. Im Winson Green Prison wurde ich ins Badezimmer geführt, wo die Badewanne mit blutigem Wasser gefüllt war, aus dem gerade einer der anderen Männer herausgezerrt worden war. (…)

Unsere erste Berufung war ein Witz, und als Lord Denning erklärte, dass die Annahme, dass die Polizei lügt, eine »entsetzliche Aussicht« eröffnen würde (was bedeutet, dass das britische Justizsystem als korrupt entlarvt würde), war ich sicher, dass ich nie wieder das Tageslicht sehen würde, da ein Eingeständnis ernsthafte Auswirkungen auf den britischen Staat hätte.

Quelle: John Walker, Birmingham Six: The people who framed us have never been brought to account, An Phoblacht, 4. November 2012.

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