Leben ohne Knechtschaft
Von Dieter KraftDer hier dokumentierte Vortrag wurde am 27. Oktober auf dem Symposium »Für eine Kultur des Friedens« anlässlich des 90. Geburtstages des Philosophen Thomas Metscher gehalten. Wir danken dem Autor für die Genehmigung zum Abdruck. (jW)
Vor Ihnen steht ein Privilegierter. Privilegierte sind zumeist nicht sonderlich begabt, wohl aber vielfältig ausgezeichnet. Meine letzte Auszeichnung erhielt ich von Thomas Metscher. Sie bestand in der Erlaubnis, ihn mit »Old Tom« anreden zu dürfen und den »Professor« natürlich wegzulassen. Seitdem ist »Old Tom« für mich ein akademischer Titel ganz besonderer Art, zudem so singulär, dass man großes Glück haben muss, ihn unter den Heerscharen von Professoren noch einmal antreffen zu können. Aber wie bereits gesagt, ich bin privilegiert und hatte dieses Glück, das sich selbst heute einstellt, wenn ich in diese Runde schaue.
Dieser kleine Vorspann war notwendig, weil er mir aus einer Verlegenheit hilft. Denn jetzt darf ich endlich – ohne unbescheiden zu wirken – sagen:
Dear Old Tom, venerable Irish Priscilla, mit Tochter Fiona und Schwiegersohn Wolfgang, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde.
Was für ein großes Glück, zu Ehren von Thomas Metschers 90. Geburtstag reden zu dürfen.
Das biblische Maß ist ja viel bescheidener. Da schafft man, wenn es gut geht, 70, und wenn es sehr gut geht, gerade einmal 80 Jahre – sagt der Psalm 90. Metscher aber hat die Bibel in den Schatten gestellt. Er hat halt seine eigene Zählung.
Und genau so habe ich ihn kennengelernt – vor mehr als drei Jahrzehnten – 1992 mit dem Band »Pariser Meditationen«. Den durfte ich ein Jahr später im Neuen Deutschland rezensieren.
Das war nicht so einfach, obwohl ich ganz affirmativ begann und schrieb: »Es gibt gute und schlechte Bücher; Thomas Metscher aber hat mit seinen ›Pariser Meditationen‹ ein – im Doppelsinn des Wortes – notwendiges Werk verfasst. Zudem auf einem literarischen Niveau, das Theoretisches und Analytisches zur Sprache bringt.« Und »Sprache, die zuträgt, ist mehr als ein bloßer Informationsträger. Suggerieren aber will Metscher nichts. Die Not, von der er spricht und die gewendet werden muss, ist höchst real. Es ist die Not der kleinen Linken in der großen Welt der Rechten. Und mehr noch geht es ihm um unsere kleine Welt und um das Menschenrecht auf Leben ohne Knechtschaft, die in Herrschaft gründet.«
Gerechtigkeit und Frieden, eigentlich ist das auch der Cantus firmus, der sich durch Metschers Gesamtwerk zieht. Aber eigenartig genug, dennoch gerieten wir in einen gewissen Dissens, der sich noch verstärkte, nachdem ich in den Weißenseer Blättern nicht nur meine ND-Rezension, sondern auch einen Brief an Thomas Metscher veröffentlicht hatte, den er in der nächsten Ausgabe der WBl nicht minder kategorisch beantwortete.
Da heißt es (und ich zitiere): »Der für mich zentrale Satz [also in meinem Brief an ihn] – der Punkt auch, an dem unsere Auffassungen deutlich divergieren – lautet: ›Das Programm der bürgerlichen Revolution ist eingelöst worden.‹ Das nun, meine ich, ist gerade nicht der Fall.« (WBl 4/1993, S. 68)
Vielleicht gibt es auch heute noch Kolleginnen und Kollegen, die sich vorstellen können, von welcher Existentialität diese damalige Kontroverse getragen war.
Der europäische Sozialismus wird zerschlagen, aber der gerade gefeuerte Ostberliner Uni-Dozent hält daran fest, dass es, jedenfalls in der DDR, geradezu eine aufhebende Überbietung des Programms der bürgerlichen Revolution gegeben habe. Und der westdeutsche Professor sagt: Dem ist mitnichten so, sonst gäbe es diesen Sozialismus noch. Doch ihr selbst tragt die Verantwortung für seinen Untergang.
In der Regel spricht man nach einem solchen Dissens nicht mehr miteinander, doch siehe da: Mit fortlaufender Metscher-Lektüre habe ich mich in diesen Westdeutschen verliebt. Und als 2019 im Mangroven-Verlag die »Pariser Meditationen« in zweiter Auflage erschienen, klang meine Besprechung in der jungen Welt auch ganz anders. Denn ich hatte verstanden, wie furchtbar es für die buchstäblich vereinzelten Marxisten in Westdeutschland gewesen sein musste, dem Untergang nicht nur der DDR hilflos zusehen zu müssen. Faktisch konnten sie sich als widerlegt betrachten. Und nicht wenige fielen ja auch vom Glauben ab – wie man unter uns Theologen zu sagen pflegt.
Nicht so freilich ein Thomas Metscher. Im Gegenteil. Schon vor 1989, als sein Sammelband »Herausforderung dieser Zeit« in der Edition Marxistische Blätter erschien, kämpfte er gegen die sich abzeichnende Niederlage der europäischen Linken an. Zitat: »Die politische Rechte ist in der Offensive.« – »Im Vormarsch sind die Kräfte des intellektuellen Obskurantismus, der geistigen Reaktion. Die Cipollas rücken an.« (S. 19)
Gewiss nicht zufällig erinnert Metscher hier an Thomas Manns »Mario und der Zauberer«. Die Novelle erschien 1930, am Vorabend der großen Verheerung. Metschers Vortrag, aus dem das Zitat stammt, ist von 1988. Ein Jahr später kennt man den europäischen Sozialismus nur noch dem Namen nach.
1988 ist für Metschers Bibliographie auch insofern bemerkenswert, als er in diesem Jahr fast die Hälfte der Texte schreibt, die später dann in den beiden wunderbaren Bänden »Shakespeares Spiegel« veröffentlicht werden (zwölf von 29). Und es sind gerade diese Texte, mit denen er sich auf unterschiedlichste Weise der absehbaren Niederlage entgegenstellt.
Selbst als die Cipollas ihre Siege feierten, hörte Metscher nicht auf, danach zu fragen, wie eine sozialistische Gesellschaft gebaut sein muss, um eben nicht besiegt werden zu können. Ich spreche über sein spektakuläres Buch »Integrativer Marxismus«, das 2017 im Mangroven-Verlag erschien und von Ursula Vogt, die ich Guggi nennen darf, in ihrer UZ-Rezension als ein großes Geschenk des Thomas Metscher zum 200. Geburtstag von Karl Marx gefeiert wurde.
Metschers Prämisse wirkt schlicht und ist doch völlig plausibel, wenn er schreibt: »Unverkennbar tritt die Welt in eine historische Entscheidungsphase, an deren Ende der Rückfall in vorzivilisatorische Lebensverhältnisse, wenn nicht (gar) die Auslöschung menschlich bewohnter Welt stehen kann.« (S. 25) Und weil das immer wahrscheinlicher zu werden beginnt, stehen Marxisten heute in einer Situation, in der sie gezwungen sind, den Marxismus neu zu konzipieren – nicht zu reformieren, sondern zu weiten. Und Metscher geht für dogmatisch Verengte sehr weit, wenn er sagt: »Die Ausarbeitung des Marxismus, die seine Zukunftsfähigkeit sichern soll, hat nicht allein durch die Aneignung des Universums überlieferten Wissens und überlieferter Kultur wie die Einarbeitung der Ergebnisse der positiven Wissenschaft zu erfolgen. Dazu gehört vielmehr, im vollen Umfang, die Verarbeitung auch nichtwissenschaftlicher Weltanschauungs- und Wissensformen: vom Alltagsbewusstsein und Sprache über Mythos, Religion bis zu den Künsten. Dabei geht es nicht allein und auch nicht in erster Linie um die Ausarbeitung des Falschen und ›Ideologischen‹ in diesen Formen (dies gehört selbstverständlich immer dazu (…), sondern gerade um das Herausarbeiten ihrer Wahrheitsmomente. In diesem Sinn ist ein Marxismus der Zukunft als eine Synthesis von Wissensformen zu konzipieren.« (S. 43) Prüfet alles, das Gut behaltet – Integrativer Marxismus. So ähnlich hat auch Lenin gedacht – und nicht nur im Blick auf die drei Quellen des Marxismus.
Ich habe aus einer Rezension zitiert, die ich 2018 in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung veröffentlichen konnte (14/ 15–19) und besonders gefallen hat mir natürlich das Paulus-Zitat (1. Thess. 5,21). Ein Wort aus der ältesten Schrift des sogenannten Neuen Testaments, das völlig angemessen auch als Untertitel zu Metschers Buch hätte stehen können: Integrativer Marxismus – Prüfet alles, das Gute behaltet. Jedenfalls ist es die Grundmaxime, mit der der Autor ein unglaublich weites Feld durchschreitet, um Antworten auf die Frage zu finden, wie konsistent und universal zugleich der Marxismus heute sein müsste, wenn er den globalen Herausforderungen unserer Gegenwart in Theorie und Praxis gerecht werden will. Und diese Herausforderungen sind exorbitant, denn: »Unverkennbar tritt die Welt in eine historische Entscheidungsphase.«
Es ist für Metscher bezeichnend: Schon in seinem »Kunst«-Buch entfaltet er die Maxime eines Integrativen Marxismus. »Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf« erschien 2012 in erster Auflage und dann 2020 im Mangroven-Verlag in zweiter Auflage.
Ich habe damals in den Marxistischen Blättern geschrieben (3/2021, S. 139–141): Thomas Metschers Kunstbegriff ist außergewöhnlich umfassend, denn Kunst ist für ihn die kulturelle und zivilisatorische Atmosphäre menschlichen Lebens überhaupt. Und die ist polymorph, nicht nur quantitativ. Und die Kernthese lautet dann: Marxismus ist »als Trias zu begreifen, die aus den konstitutiven Bestandteilen Wissenschaft, Philosophie und Kunst besteht (…). Diese Trias bildet in ihrem konstitutiven Zusammenhang das dialektische Fundament des Marxismus.« (2012, S. 12)
Eine solche fundamentale Weitung des Marxismus würde eigentlich auch ohne den numerischen Begriff »Trias« auskommen, denn gesagt wird von Metscher nicht weniger als dieses: Der Marxismus hat es mit allem zu tun, mit dem ganzen Leben des Menschen, mit dem Menschen in der Totalität aller seiner wirklichen und möglichen Zusammenhänge. Erstaunlich, dass ein solcher Ansatz nicht schon immer den Marxismus nachhaltig bestimmt hat. Engels jedenfalls hatte nachdrücklich darauf insistiert, dass die Dialektik im marxistischen Denken universaler Natur ist, nämlich eine »Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs«. Und Metscher ist der wohlbegründeten Überzeugung, dass der Marxismus erst dann wieder eine weltbestimmende Relevanz erlangen wird, wenn er dieser Universalität Rechnung trägt – einer Universalität, die, wie gesagt, auch für Lenin konstitutiv war.
Das hat in jeder Beziehung ganz handfeste politische Konsequenzen. So hat Priscilla Metscher in dem gemeinsamen Irlandbuch »Am Vorabend der Oktoberrevolution« (2016) überzeugend zeigen können, welch große Bedeutung ein »integratives Konzept des Sozialismus« (S. 100) gerade auch in der Frage nach der, wie sie sagt, »nationalen Dimension« des Klassenkampfes zukommt.
Und Thomas Metscher hat bereits in seinem 2010 herausgekommenen und zum Standardwerk avancierten Band »Logos und Wirklichkeit« gezeigt, wie die Ontologie des gesellschaftlichen Bewusstseins formatiert ist – bzw. formatiert sein muss –, um die unglaublich vielfältige Wechselwirkung dialektischer Verhältnisse erfassen zu können. Ein wunderbares Werk, für Systematiker geradezu ein Kleinod.
Aber Thomas Metscher ist nicht nur ein brillanter Theoretiker. Wer mit Philosophie und Kunst daherkommt, der hört nicht auf, Philosoph zu sein, wenn er als Kunsttheoretiker doziert – und vor allem hört er nicht auf, ein Homo politicus zu sein.
Ich hatte das große Vergnügen, Metschers Band »Sein und Bewusstsein« zu lektorieren, 2023 wiederum im Mangroven-Verlag erschienen, dem Lehrer und Freund Hans Heinz Holz gewidmet, dem auch ich herzlich verbunden war – und für den ich zehn Jahre lang die Zeitschrift Topos redigiert habe. Sein und Bewusstsein, ontologische Reflexionen – und womit beginnt dieses Werk? Mit einem Gedicht, was sage ich, mit einer Ode, einem Epos, in dem auch Babyn Jar gedacht wird:
»Die Schlucht bei Kiew und die erschossenen Juden in ihr
Dreißigtausend waren es oder mehr
Genau hat sie wohl niemand gezählt
Die Stille, die alle Laute in sich trägt
Die Mörder
die Kumpanei von SS und Bandera-Banditen
noch heute geehrt als Speersitze im Kampf gegen das neue Russland
Mit dem NATO-Faschismus im Ziel vereint, dies Russland zu ruinieren
Dass nichts mehr sei als ein Land von Ruinen
So die neue Stimme aus Deutschland
Über die achtundzwanzig Millionen Toten
Als Summe des deutschen Kriegs
Hören wir nichts
Die Mörder haben die Kleider gewechselt und die politische Formation
Im Kampf um die Herrschaft der Welt.«
Sein und Bewusstsein – bei Metscher dringt das Theoretische geradezu schmerzhaft in die Wirklichkeit hinein, weil das Bewusstsein nicht nur eine Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins ist, sondern das gesellschaftliche Sein auch schafft – wie Lenin sagt. Und Metscher hat diese grundlegende Erkenntnis endlich noch einmal zur Besinnung gebracht. Auch an diesem Band kommt ein Integrativer Marxismus nicht vorbei.
Und vorbei kommen wir alle nicht an Thomas Metschers letztem Werk, das so umfangreich und gewichtig ist, dass es gleich eines Lektoren-Pärchens bedurfte, um bewältigt werden zu können.
Ich meine natürlich Metschers Faust. »Faust und die Dialektik. Studien zu Goethes Dichtung«, Mangroven-Verlag 2024.
Wie Shakespeare so ist auch Goethe – und vor allem Goethes »Faust« – für Metscher ein Lebensthema. Schon 2003 erschien die Sammlung »Welttheater und Geschichtsprozeß. Zu Goethes Faust«. Und jetzt besitzen wir eine neu sortierte und aktualisierte Ausgabe aller Beiträge, die Metscher zu Goethes »Faust« und dessen Rezeptions- und Interpretationsgeschichte veröffentlicht hat. Ein Mammutwerk, eine Krönungsliteratur, durch die man – wie bei Goethes »Faust« – heil nur hindurchkommt, wenn man der Dialektik traut und ihrer gewiss ist und den Widerspruch erkennt als das Maß aller Verhältnisse.
Dann ebnet sich alles Verkürzte und willkürlich Entgegengesetzte ein, und Faust ist weder nur ein Held und weder nur ein Schurke, und das Leben blüht, obwohl der Teufel anwest, und Gretchens Tragödie wird schließlich zur Tragödie des Mephistopheles. Sie ist gerichtet! Ist gerettet! Er hat nicht das letzte Wort.
Neben Hegel ist Goethe der subtilste Dialektiker. Diese Erkenntnis verdanken wir Thomas Metscher – mit dessen »Faust«-Interpretation eine Kostbarkeit auf uns gekommen ist, für die wir überaus dankbar sein dürfen.
Doch wer die Produktivität dieses Gelehrten kennt, der wird nicht davon ausgehen, dass wir es hier mit seinem letzten Werk zu tun haben. Also sparen wir uns die letzten Worte noch auf.
Dieter Kraft, Jg. 1949, ist evangelischer Theologe. Bei Hanfried Müller zum Dr. theol. promoviert und später zum Dr. sc. theol. habilitiert, war er bis zu seiner sog. Abwicklung 1992 ordentlicher Universitätsdozent für Systematische Theologie an der Sektion Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin. 1991 trat Kraft aus Protest als gewählter Senator zurück. Von 1980 bis 1984 arbeitete er im Prager Stab der Christlichen Friedenskonferenz und redigierte seit 2000 für zehn Jahre die von Hans Heinz Holz und Domenico Losurdo herausgegebene Zeitschrift Topos.
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