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Aus: Ausgabe vom 20.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Die Gewalt der Männer

Literarische Präzisionsmechanik: Ulrike Edschmids Roman »Die letzte Patientin«
Von Andreas Schäfler
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Entschiedene Zeitzeugenschaft: Ulrike Edschmid

»Von den fünf Sprachen, die sie beherrscht, kehrt sie im Sterben nicht zur Sprache ihrer Kindheit zurück. In den letzten Augenblicken spricht sie Französisch, was ihr, wie sie oft sagte, immer am schwersten gefallen war.« So berichtet in Ulrike Edschmids neuem Buch die Erzählerin von dem finalen Telefonat mit der Hauptfigur, die in einem Krankenhaus in Barcelona liegt. Diese Frau bleibt namenlos, und sie ist auch nicht die titelgebende letzte Patientin. Die taucht erst in der Mitte dieser Novelle auf und bekommt dann immerhin die Initiale N. »N wie Niemand.«

Zunächst aber wird 50 Jahre zurückgeblendet, in die Frankfurter WG, wo Erzählerin und Hauptfigur einander kennenlernen, aber schon bald wieder aus den Augen verlieren. Denn letztere folgt einem spanischen Anarchisten nach Barcelona, dann einem ehemaligen Tupamaro nach Uruguay, brennt von da nach Arizona und weiter nach Mexiko durch. Immer ist sie etwas Besserem als dem Tod auf der Spur, kommt aber nur knapp mit dem Leben davon. Ulrike Edschmid versteht es glänzend, einem per indirekter Rede die Kapriolen dieser drastischen Existenz unterzujubeln. Manchmal lässt sie die Erzählerin aus Briefen der Hauptfigur zitieren, etwa von deren letzter Reise durch die mongolische Wüste: »Es sei am Tag ihres Rückflugs gewesen, schreibt sie, als sie im Hotel in Ulan Bator am frühen Morgen in ihrem Nachthemd auf den Balkon zum Innenhof hinausgetreten sei und jemand von schräg gegenüber aus gewinkt habe. Halbblind habe sie zurückgewinkt, und erst als sie ihre Brille aufsetzte, habe sie im roten Gewand den Dalai Lama erkennen können, der sie, noch immer lächelnd, über den Innenhof hinweg grüßte.«

Da hat sie aber bereits einen verräterischen Knoten in der Brust ertastet, was sie definitiv nach Barcelona zurückkehren lässt. Um ihrer Krebserkrankung die Stirn zu bieten, nimmt sie ein Psychologiestudium auf, spezialisiert sich auf Traumaforschung und beginnt als Therapeutin zu arbeiten. Auf Seite 53 betritt schließlich N. ihren Behandlungsraum – ein junges Mädchen, das nicht spricht. Erst nach einem jahrelangen und quälenden therapeutischen Prozess wird sich offenbaren, ob dieser psychischen Erschütterung ein reales oder ein eingebildetes Verbrechen zugrunde liegt.

Spätestens mit Beginn dieses Erzählstrangs gibt es kein Entrinnen mehr aus der perfekten Präzisionsmechanik dieser Novelle, die in einem halben Hundert hochverdichteter Kürzest-Kapitel ohne Hast auf die einzig mögliche Spitze zutreibt. Dass man der Autorin abnimmt, wo und wie sie die verzweifelten Liebesversuche ihrer Figuren münden lässt, hat nicht nur literarische Gründe. Die profunde Kenntnis ihrer Milieus ist bei Ulrike Edschmid auch persönlich beglaubigt. Das hat sie spätestens 2013 mit dem Roman »Das Verschwinden des Philip S.« nachgewiesen (der neulich vom Spiegel in seinen Kanon der 100 besten Bücher der vergangenen 100 Jahre aufgenommen wurde). An vergleichbaren Überzeugungstätern, wenn es um das literarische Ausleuchten eines radikalen Freiheitsbegriffs geht, fallen einem tatsächlich nicht viele ein. Daniel de Roulet, Sherko Fatah, mehr aus der Vogelschau herunter vielleicht noch Uwe Timm.

Eine Voraussetzung für Ulrike Edschmids Schreiben ist ihre entschiedene Zeitzeugenschaft, die sich nie mit der gelungenen Wiedergabe von Kolorit oder dem gekonnten Evozieren von Melancholie zufriedengeben würde. »Die letzte Patientin« ist aber auch das Produkt einer raffinierten Versuchsanordnung mittels dreier Frauenfiguren: Die erste berichtet, was die zweite von der Geschichte der dritten erzählt. Über diese Personenkonstellation kommen Intensitäten aus den Biographien aller Beteiligten zur Sprache und werden, vom vorbehaltlosen Lebensmut bis zum entsetzlichsten Leid, nacheinander gespiegelt, geteilt und austariert. In diesem Kondensat, das auch die Möglichkeiten und die Grenzen von Psycho­therapie offenlegt, zeigt sich schließlich, wodurch diese Frauen miteinander überzeitlich verbunden sind: Es ist die Gewalt, die sie von Männern erfahren haben und nie wieder losgeworden sind.

Was mit dem unbestechlichen Blick auf einen jungen Menschen begann, der von jenem »lasziven Lebensüberdruss, wie man ihn aus Filmen der Nouvelle Vague kennt«, geprägt war, endet mit den tröstlichen Sätzen: »In Espadrilles mit Keilsohlen war sie auf dem Geröll zuweilen gefährlich ins Rutschen gekommen, aber nie gestürzt. Eine kaum merkliche Vorsicht hatte sie geleitet – und immer auf Absätzen, die sie ein wenig größer erscheinen ließen, als sie eigentlich war.«

Ulrike Edschmid: Die letzte Patientin. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 111 Seiten, 23 Euro

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