Vages aus Rio
Von Frederic SchnattererLetztlich ging es schneller und reibungsloser als erwartet. Bereits am Montag (Ortszeit), dem ersten Tag des G20-Gipfeltreffens im brasilianischen Rio de Janeiro, einigten sich die Teilnehmer auf eine Abschlusserklärung. Als zentrale Ziele werden der Kampf gegen den Hunger und die Klimaerwärmung sowie eine Reform der internationalen Institutionen definiert.
Am Zuckerhut waren die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sowie Vertreter der EU und der Afrikanischen Union zusammengekommen. Sie einigten sich – schwammig genug formuliert – darauf, sich zu »bemühen, zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen«, dass sehr vermögende Privatleute »effektiv besteuert werden«. Über einen Minimalkonsens der G20-Finanzminister vom Juli geht das nicht hinaus. Damals hatten sich vor allem die USA und Deutschland dem brasilianischen Vorschlag einer Milliardärssteuer verwehrt. Dieser sah vor, alle Personen mit einem Vermögen ab einer Milliarde US-Dollar mit mindestens zwei Prozent zu besteuern. Von den rund geschätzt 3.000 Superreichen wären damit weltweit zusätzliche Steuereinnahmen von bis zu 250 Milliarden Dollar im Jahr gekommen.
Auch beim Thema Klimawandel blieb die Abschlusserklärung vage. So heißt es, man halte am vereinbarten Ziel fest, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Dafür seien »eine verstärkte internationale Zusammenarbeit und Unterstützung« notwendig, »auch in Hinblick auf die Aufstockung der öffentlichen und privaten Klimafinanzierung und -investitionen für Entwicklungsländer«, die »rasch und deutlich von Milliarden auf Billionen« erhöht werden sollen – aus welchen Quellen, bleibt offen. Die Länder des globalen Südens nehmen die Industrieländer als Hauptverursacher der Klimaerwärmung in die Verantwortung, diewiederum zeigen mit dem Finger auf Länder wie China.
Man stehe »vor einer vielschichtigen Krise, in der politische und geopolitische Spannungen unsere Fähigkeiten beeinträchtigen, Herausforderungen wie die Förderung des Wachstums, die Verringerung von Armut und die Bekämpfung des Klimawandels anzugehen«, heißt es in der Erklärung. Um dem entgegenzuwirken, seien »multilaterale Lösungen« und »die Stärkung der globalen Ordnungspolitik« notwendig. So soll der UN-Sicherheitsrat reformiert werden, um bisher dort nicht dauerhaft vertretenen Regionen wie Lateinamerika oder Afrika zu mehr Gewicht zu verhelfen. Derzeit gehören dem Sicherheitsrat als ständige Mitglieder China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA an. Da sie über ein Vetorecht verfügen, ist die Institution in ihrer Handlungsfähigkeit oft mindestens eingeschränkt.
Bereits ganz zu Beginn des Gipfeltreffens hatte der Gastgeber, Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, den Startschuss zur globalen Allianz gegen Hunger und Armut gegeben. Dabei betonte er, »Hunger und Armut sind nicht das Ergebnis von Knappheit oder natürlichen Phänomenen«, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen, die zur Ausgrenzung eines Großteils der Menschheit führten. So würden weltweit jährlich fast 2,3 Billionen Euro für Rüstung und Militär ausgegeben, während 733 Millionen Menschen unterernährt sind. »Das ist, als hungerten ganz Brasilien, Mexiko, Deutschland, Großbritannien, Südafrika und Kanada.«
In der Abschlusserklärung von Rio de Janeiro heißt es nun, es fehle weder an Wissen noch an Ressourcen, um Menschen den Zugang zu Nahrungsmitteln zu verschaffen. Ziel der Initiative, die Lula als »unser größtes Vermächtnis« bezeichnete, ist die Beseitigung des Hungers bis 2030. Rund 500 Millionen Menschen sollen bis dahin durch Geldtransferprogramme und Sozialschutzsysteme erreicht werden. Insgesamt unterstützen mehr als 80 Länder die Initiative.
Selbst der argentinische Präsident Javier Milei, der zuvor seine Differenzen betont hatte, stimmte der Abschlusserklärung letztlich zu. Gleichzeitig ließ sein Büro in Buenos Aires ein Dokument verbreiten, laut dem Milei »sich von allen Inhalten distanziert, die sich an der Agenda 2030« der Vereinten Nationen orientieren. Auch die Initiative, Superreiche zu besteuern, den Fokus auf Geschlecht und die Warnung vor »Fake News« und Desinformation lehnte der argentinische Staatschef ab – mehr als einen Versuch des ultrarechten Marktapologeten, sein Gesicht zu wahren, stellt die Geste nicht dar.
Gänzlich scheiterten hingegen die Länder des »Westens«, allen voran die Bundesregierung, damit, die anderen G20-Länder bei der Bewertung der Kriege in der Ukraine und in Nahost auf Linie zu bringen. Wie bereits im vergangenen Jahr im indischen Neu-Delhi wird Russland in der Abschlusserklärung nicht als Aggressor benannt. Vielmehr werden »alle Parteien« an ihre Pflicht erinnert, sich an internationales Recht zu halten. Zudem wird auf »das menschliche Leid und die negativen Auswirkungen des Krieges« hingewiesen, so bezüglich der Nahrungsmittel- und Energiesicherheit.
Mit Blick auf die israelischen Kriege in Nahost werden angesichts der dramatischen Situation im Gazastreifen und der Eskalation im Libanon im Abschlussdokument eine Ausweitung der humanitären Hilfe und der Schutz der Zivilbevölkerung gefordert. Zudem bekräftigen die G20-Staaten das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und sprechen sich »unerschütterlich« für eine Zweistaatenlösung aus.
Hintergrund: Schwindende Macht
Als »Treffen der lahmen Enten« (»lame ducks«) wurde der G20-Gipfel in Brasilien in mehreren Medien bezeichnet. Der Begriff bezieht sich auf abgewählte US-Präsidenten, die ihre Amtszeit nur noch zu Ende bringen. Das trifft auf Joe Biden zu, der im Januar von Donald Trump als Staatschef abgelöst werden wird und nun eine Art Abschiedstournee auf der internationalen Bühne absolviert. Als »lame duck« darf nun auch Bundeskanzler Olaf Scholz gelten, dessen Weiterregieren nach der Neuwahl im Februar eher unwahrscheinlich ist.
Auch wenn der Befund, sofern man ihn so nennen mag, zunächst unbefriedigend ist: Etwas ist dran an der Feststellung, dass die Staats- und Regierungschefs so bedeutender Industrienationen wie USA und Deutschland auf dem G20-Gipfel 2024 über wenig Ausstrahlung und Durchsetzungsfähigkeit verfügen. Das war nicht zuletzt daran erkennbar, dass Gastgeber Brasilien trotz Bitten aus dem »Westen« keine Einladung an den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij versandte und die Kriege in der Ukraine und in Nahost aus Sicht des Globalen Südens und nicht in der Bewertung des Nordens thematisierte.
Der Gipfel in Rio de Janeiro war der dritte in Folge, der auf der Südhalbkugel ausgerichtet wurde. Im kommenden Jahr übernimmt Südafrika die Präsidentschaft. Statt zum Freihandel bekennen sich die Teilnehmer des Treffens vermehrt zu einem »multilateralen Handelssystem«. Der Bedeutungsverlust des »Westens« dürfte sich mit dem Amtsantritt von Trump Ende Januar 2025 noch beschleunigen. Dessen protektionistische »America First«-Politik wird höchstwahrscheinlich einen Rückzug der USA aus multilateralen Institutionen bedeuten. Die angekündigten Strafzölle auf Importe aus aller Welt oder der mögliche Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen stehen der Abschlusserklärung von Rio de Janeiro zudem diametral entgegen. (fres)
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