Moskau senkt Atomschwelle
Von Reinhard LauterbachRussland hat die selbstgesetzte Schwelle für den Einsatz seiner Atomwaffen deutlich gesenkt. Dies geht aus dem am Dienstag veröffentlichten Erlass zur »Bestätigung der Grundlagen der nuklearen Abschreckung« hervor. Die vorherige Version der Nukleardoktrin, die den Einsatz von Atomwaffen nur in Situationen einer »existentiellen Bedrohung« der Souveränität oder staatlichen Existenz Russlands zuließ, wurde ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Bereits im Juni hatte Putin die Änderung der Atomdoktrin angeordnet. Dies fiel zusammen mit Überlegungen im Westen, der Ukraine den Einsatz gelieferter Waffen auch für Angriffe auf russisches Gebiet zu erlauben.
Viele der Voraussetzungen, unter denen sich Russland den Einsatz von Atomwaffen vorbehält, sind geprägt von aktuellen Aspekten. Etwa, wenn die Rede davon ist, dass eine Aggression eines nicht atomar bewaffneten Staates, der von einer oder mehreren Atommächten unterstützt wird, dem Angriff einer Atommacht gleichgesetzt wird. Ebenso wird die »Aggression eines Mitgliedstaates einer gegen Russland gerichteten militärischen Koalition« als Angriff dieser gesamten Koalition gewertet.
Am deutlichsten werden die Senkung der potentiellen Einsatzschwelle und ihre potentielle Ausweitung auf Präventivschläge in Bestimmungen wie der, dass »die Schaffung oder Erweiterung bestehender Militärbündnisse, die ihre Infrastruktur den Grenzen Russlands annähern, zu einer Gefahr werden kann«, die die Anwendung von nuklearer Abschreckung nach sich ziehen könne. Ähnlich präventiv ist die Formulierung zu verstehen, potentiell mit Atomwaffen zu beantwortende Bedrohungen seien die Durchführung »großangelegter Manöver nahe der Grenzen der Russischen Föderation« bzw. die Installierung von Raketenabwehrstellungen auf dem Gebiet nichtnuklearer Staaten, die gegen Russland verwendet werden könnten. Letzteres zielt offenkundig auf die kürzlich in Polen eröffnete US-Basis, die mit »Tomahawk«-Marschflugkörpern bestückt werden kann.
Anders als bisher wird die Atomdrohung auch für den Fall eines großangelegten, auch konventionellen Angriffs auf Belarus ausgesprochen. Offen bleibt dabei, ob der Versuch eines Regimewechsels in Minsk hierunter fiele. Deutlich ist die Warnung vor dem Atomwaffeneinsatz beim Versuch, »Teile Russlands zu isolieren«. Das zielt auf eventuelle Bestrebungen der NATO, die konventionell kaum zu verteidigende russische Exklave Kaliningrad zu erobern. Nach der vorherigen Fassung der Doktrin hätten sich Angreifer noch die Frage stellen können, ob etwa der Verlust von Kaliningrad für die Existenz Russlands kritisch sei und man daher den entsprechenden Versuch nicht riskieren könne. Planspiele der NATO dazu hat es schon gegeben.
Die neue Atomdoktrin vermeidet strikt, Automatismen zu formulieren, mit denen Gegner kalkulieren könnten. Sie erweitert die Liste der Situationen, in denen sich Russland den Atomwaffeneinsatz vorbehält, hält aber gleichzeitig an der Aussage fest, dass Atomwaffen lediglich zur Verteidigung und lediglich als letztes, »erzwungenes« Mittel eingesetzt werden dürften. Ziel der nuklearen Abschreckung sei, dem potentiellen Gegner klarzumachen, dass im Falle einer Aggression gegen Russland »die Vergeltung unvermeidlich« ist. Entsprechend werden als potentielle Gegner Staaten oder Staatenbündnisse definiert, die »Russland ihrerseits als Gegner betrachten und über Massenvernichtungswaffen verfügen«. Die Hintertür zur politischen Umkehr bleibt offen, wie hypothetisch sie auch immer sein mag.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (20. November 2024 um 13:06 Uhr)Die Erzählungen der Leitmedien über den Ukraine-Krieg erinnern an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht – Geschichten, die faszinieren, aber oft wenig mit der Realität gemein haben. Im Kontrast dazu steht die nüchterne Antwort aus Moskau. Vor diesem Hintergrund bleibt Präsident Wladimir Putin, dessen juristische Ausbildung ihn präzise Argumentation lehrt, kaum eine andere Wahl, als Russlands Atomdoktrin an die aktuellen geopolitischen Realitäten anzupassen. Dabei setzt er unmissverständliche »rote Linien« und definiert Russlands Sicherheitsinteressen mit klarer Präzision. Diese Doktrin ist weit mehr als eine bloße Reaktion auf die militärischen Schritte der NATO. Sie ist ein klares Signal an den Westen: Die Sicherheit Russlands ist nicht verhandelbar. Vorsicht: Dies ist kein Märchen!
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Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (20. November 2024 um 08:23 Uhr)Fast möchte man sich in die Zeit des Kalten Krieges zurückwünschen. Damals warb die Sowjetunion um das weltweite Verbot eines Erstschlags mit Kernwaffen. Mit der logischen Begründung, dann gäbe es auch keinen Gegenschlag und keinen Gegengegenschlag usw. Der Welt bliebe ein Atomkrieg erspart. Einen Vertrag hierzu gab es (leider) nicht. Dennoch wurde bis heute kein Überfall von Atommächten auf die Sowjetunion/Russland gemeldet, auch nicht mit herkömmlichen Waffen. L. Breshnew und seine Nachfolger würden sich wohl im Grabe umdrehen, wenn sie von Putins Senkung der Atomschwelle erführen! – Ist Russland inzwischen so schwach, dass Putin mit der Atomkeule wedeln muss? Was ist, wenn die westlichen Atommächte nachziehen und ihrerseits die Atomschwelle senken? Jedenfalls würden dann die diesbezüglichen jW-Kommentare kaum so gleichgültig daherkommen, wie der obige!
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (20. November 2024 um 18:25 Uhr)Der Westen (= USA/NATO) macht doch schon seit vielen Jahren nichts anderes mehr als die Hemmschwelle eines Krieges gegen Russland sukzessive zu senken, die diesbezüglichen Provokationen gezielt zu steigern, sein militärisches Bedrohungspotential drastisch zu erhöhen, die Vasallenstaaten der NATO fiskalisch wie ökonomischen auf Kriegsfinanzierung und -produktion zu transformieren und die Bevölkerung dieser Staaten mental auf einen Dritten Weltkrieg hin zu konditionieren.
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