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Aus: Ausgabe vom 20.11.2024, Seite 6 / Ausland
Russland

Moskau senkt Atomschwelle

Präsident Putin unterzeichnet um neue Fälle für den Einsatz erweiterte Nukleardoktrin. Verteidigung bleibt zentral
Von Reinhard Lauterbach
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Theoretisch zum Einsatz bereit: Atomwaffenfähige »Iskander«-M-Raketen in Kaliningrad (26.10.2023)

Russland hat die selbstgesetzte Schwelle für den Einsatz seiner Atomwaffen deutlich gesenkt. Dies geht aus dem am Dienstag veröffentlichten Erlass zur »Bestätigung der Grundlagen der nuklearen Abschreckung« hervor. Die vorherige Version der Nukleardoktrin, die den Einsatz von Atomwaffen nur in Situationen einer »existentiellen Bedrohung« der Souveränität oder staatlichen Existenz Russlands zuließ, wurde ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Bereits im Juni hatte Putin die Änderung der Atomdoktrin angeordnet. Dies fiel zusammen mit Überlegungen im Westen, der Ukraine den Einsatz gelieferter Waffen auch für Angriffe auf russisches Gebiet zu erlauben.

Viele der Voraussetzungen, unter denen sich Russland den Einsatz von Atomwaffen vorbehält, sind geprägt von aktuellen Aspekten. Etwa, wenn die Rede davon ist, dass eine Aggression eines nicht atomar bewaffneten Staates, der von einer oder mehreren Atommächten unterstützt wird, dem Angriff einer Atommacht gleichgesetzt wird. Ebenso wird die »Aggression eines Mitgliedstaates einer gegen Russland gerichteten militärischen Koalition« als Angriff dieser gesamten Koalition gewertet.

Am deutlichsten werden die Senkung der potentiellen Einsatzschwelle und ihre potentielle Ausweitung auf Präventivschläge in Bestimmungen wie der, dass »die Schaffung oder Erweiterung bestehender Militärbündnisse, die ihre Infrastruktur den Grenzen Russlands annähern, zu einer Gefahr werden kann«, die die Anwendung von nuklearer Abschreckung nach sich ziehen könne. Ähnlich präventiv ist die Formulierung zu verstehen, potentiell mit Atomwaffen zu beantwortende Bedrohungen seien die Durchführung »großangelegter Manöver nahe der Grenzen der Russischen Föderation« bzw. die Installierung von Raketenabwehrstellungen auf dem Gebiet nichtnuklearer Staaten, die gegen Russland verwendet werden könnten. Letzteres zielt offenkundig auf die kürzlich in Polen eröffnete US-Basis, die mit »Tomahawk«-Marschflugkörpern bestückt werden kann.

Anders als bisher wird die Atomdrohung auch für den Fall eines großangelegten, auch konventionellen Angriffs auf Belarus ausgesprochen. Offen bleibt dabei, ob der Versuch eines Regimewechsels in Minsk hierunter fiele. Deutlich ist die Warnung vor dem Atomwaffeneinsatz beim Versuch, »Teile Russlands zu isolieren«. Das zielt auf eventuelle Bestrebungen der NATO, die konventionell kaum zu verteidigende russische Exklave Kaliningrad zu erobern. Nach der vorherigen Fassung der Doktrin hätten sich Angreifer noch die Frage stellen können, ob etwa der Verlust von Kaliningrad für die Existenz Russlands kritisch sei und man daher den entsprechenden Versuch nicht riskieren könne. Planspiele der NATO dazu hat es schon gegeben.

Die neue Atomdoktrin vermeidet strikt, Automatismen zu formulieren, mit denen Gegner kalkulieren könnten. Sie erweitert die Liste der Situationen, in denen sich Russland den Atomwaffeneinsatz vorbehält, hält aber gleichzeitig an der Aussage fest, dass Atomwaffen lediglich zur Verteidigung und lediglich als letztes, »erzwungenes« Mittel eingesetzt werden dürften. Ziel der nuklearen Abschreckung sei, dem potentiellen Gegner klarzumachen, dass im Falle einer Aggression gegen Russland »die Vergeltung unvermeidlich« ist. Entsprechend werden als potentielle Gegner Staaten oder Staatenbündnisse definiert, die »Russland ihrerseits als Gegner betrachten und über Massenvernichtungswaffen verfügen«. Die Hintertür zur politischen Umkehr bleibt offen, wie hypothetisch sie auch immer sein mag.

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