Kein Säbelrasseln
Von Reinhard LauterbachEs ist erwartbar, was Russlands Gegner zumindest öffentlich über den neuen Putin-Erlass zum Atomwaffeneinsatz sagen und schreiben werden: Russland rassle mit dem atomaren Säbel und beweise ein weiteres Mal seine weltpolitische Unverantwortlichkeit. Das ist geschenkt – und entspricht nicht den Tatsachen.
Im ganzen spricht aus dem Erlass eine erhöhte Nervosität Moskaus, dass die schrittweise Eskalation des Konflikts um die Ukraine relativ kurzfristig in einen direkten Angriff auf Russland übergehen könnte. Man macht sich keine Illusionen darüber, dass es den USA und der EU nicht in erster Linie um die Ukraine geht bzw. um diese nur insofern, als sie zur Schwächung und Erschöpfung Russlands genutzt werden kann. Daher auch die Betonung des räumlichen Faktors: die »Annäherung von Infrastruktur eines gegen Russland gerichteten Militärbündnisses an die russischen Grenzen«.
Man könnte denken, im Zeitalter der Interkontinentalraketen spielten ein paar hundert Kilometer ukrainische Felder und Steppen keine Rolle. Aber das stimmt nicht: Die Entfernung bestimmt die Schnelligkeit, mit der eine abgefeuerte Raketensalve ihre Ziele erreichen kann, und sie beschränkt die Zeit für Vorwarnung und die strategische Entscheidung, wie mit dem Angriff umzugehen sei. Interkontinentalraketen fliegen aus den USA etwa eine halbe Stunde lang, von U-Booten aus weniger; moderne Marschflugkörper, die in Osteuropa gestartet werden, keine fünf Minuten.
Gleichzeitig vollzieht die neue Atomdoktrin militärisch nach, was Inhalt des russischen Verhandlungsultimatums an den Westen vom Dezember 2021 war: Rücknahme der NATO-Expansion seit 1999 – und das Angebot bzw. die Forderung, eine neue Sicherheitsarchitektur für Eurasien zu errichten. Daran war der Westen seinerzeit nicht interessiert und verschanzte sich hinter Phrasen wie der »Freiheit der Bündniswahl«. Dass sich diese nicht gegen die Interessen von Nachbarländern richten dürfe, hat der Westen irgendwann bei der OSZE auch einmal unterschrieben, aber seitdem anscheinend vergessen.
So ist Putins neue Atomdoktrin eine doppelte Klarstellung: Erstens enthält sie eine relativ präzise Aufzählung »roter Linien«, und die Art, wie diese am Beispiel eines möglichen Angriffs auf das Gebiet Kaliningrad formuliert sind, macht zweitens den Grad der Besorgnis Russlands deutlich. Moskau weiß, dass es der NATO militärisch unterlegen wäre, und warnt deshalb vor der Vorstellung eines kleinen konventionellen Eroberungskrieges. Der werde nicht zwangsläufig konventionell bleiben. Die Bedingungen für den Atomwaffeneinsatz sind aber auch eine gewisse Selbstbeschränkung. So ist die konventionelle Unterstützung der Ukraine im bisherigen Maße für Russland nach dem Text der Doktrin kein Anlass zu Atomschlägen, solange die Kämpfe sich auf ukrainisches Gebiet beschränken. Wenig tröstlich bleibt das für die Ukraine.
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