Autoritär und undemokratisch
Von Spyro MarasovicEs ist der 17. August 2024. An diesem Tag soll in Leipzig der Christopher Street Day stattfinden. Die rechtsextreme Szene hat überregional mobilisiert. Angekündigt ist eine Gegendemonstration unter dem Motto »Stolz, deutsch, national«. Im Laufe des Vormittags versammeln sich ungefähr 350 Leute an der Westseite des Leipziger Hauptbahnhofs. Rechtsextreme Parolen werden skandiert, verbotene Symbole gezeigt. Gegen Mittag wird die Versammlung nach Rücksprache mit der Polizei abgesagt. Obwohl die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Versammlung nicht zu überhören bzw. zu übersehen ist – über Social Media werden Videos verbreitet, die dokumentieren, wie einzelne Teilnehmer ungestört den Hitlergruß zeigen –, handelt die Polizei zögerlich.
Parallel findet in Berlin eine propalästinensische Demonstration statt, zu der unter anderem die Gruppe »Palästina spricht« aufgerufen hat. Während der Demonstration kommt es zu Ausschreitungen, Flaschen und Eier fliegen. Im Anschluss kursieren Videos im Internet, die zeigen, wie mehrere Polizeibeamte einen am Boden fixierten Jugendlichen mit Schlägen traktieren und ein Polizist eine Frau von hinten brutal zu Boden stößt.
Diese Übergriffe sind keine Einzelfälle. Seit dem terroristischen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 kommt es bei Demonstrationen, die das Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen kritisieren, vermehrt zu Ausschreitungen wie diesen. Sie sind nicht selten das Ergebnis des brutalen Vorgehens der Polizei gegen Demonstrantinnen und Demonstranten.¹ Was im Ausland zunehmend auf Kritik stößt, interessiert hierzulande aber kaum jemanden.
Im Interesse des Staates
Das brutale Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten ist für Menschen, die schon mal auf einer linken Demonstration waren, zwar keine Überraschung. Es greift jedoch zu kurz, die Repression nicht auch als sehr konkrete Folge staatlicher Politik zu begreifen. Bei einem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Israel formulierte dieser, dass die »Sicherheit Israels deutsche Staatsräson« sei. Dies gelte für die außenpolitische Unterstützung Israels wie auch für die deutsche Innen- und Sicherheitspolitik mit Blick auf den Schutz jüdischen Lebens sowie den Umgang mit »israelfeindlichen« Demonstrationen. Doch was meint Scholz damit? Dass Deutschland eine rechtliche Verpflichtung zur Israel-Solidarität habe? Oder dient die Aussage einfach nur dazu, eine bestimmte Politik zu forcieren?
Der Begriff »Staatsräson« wurde in den vergangenen Jahrzehnten nur zögerlich verwendet. Dunkel erinnert man sich noch an die Rede, die Angela Merkel 2008 in der Knesset in Jerusalem hielt. Mit Blick auf den Holocaust äußerte Merkel: »Die historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes.« Scholz greift den Begriff nun auf und beschreibt damit eine ganz konkrete Politik: die der Israel-Solidarität. Deutschland ist, will das heißen, im Konflikt um die Besatzung und die Unabhängigkeit Palästinas nicht neutral, sondern steht auf der Seite Israels, und dies findet innen- wie außenpolitisch seinen Ausdruck.
Wenn die Bundesregierung sich auf den Begriff der Staatsräson zur Begründung politischer Maßnahmen bezieht, dann wendet sie die Staatsrechtslehre Machiavellis (1469–1527) an. Der Philosoph und Politiker des frühen 16. Jahrhunderts sah den Staat nicht als Resultat gesellschaftlicher Machtverhältnisse oder gar Klassenkämpfe an, sondern als ein über der Gesellschaft stehendes Wesen, das über den Wechsel politischer Verhältnisse hinaus Bestandskraft habe. Nach Machiavelli verfügt der Staat als Wesen an sich über ureigene Interessen und Ziele, die, wenn sie in Konflikt mit Moral, Religion und dem formalen Recht geraten, den Vorrang haben. Eine politische Maßnahme darf also auch dann vorgenommen werden, wenn sie rechtswidrig ist, solange sie dem ureigenen Staatsinteresse dient. Auf dieser Grundlage wurde schon zu Zeiten Machiavellis die Ermordung von Kriegsgefangenen diskutiert, die zwar als »unchristlich« galt, aber durch die »Staatsräson« legitimiert wurde.
Laut der Rechtswissenschaftlerin Marietta Auer ist »Staatsräson« ein offener, unbestimmter Begriff, eine sogenannte Generalklausel. Als Generalklausel bezeichnet man in der Rechtswissenschaft Normen, deren Tatbestand besonders weitgefasst ist und unter die man sehr viele Handlungen subsumieren kann. Dabei unterscheidet sich die Staatsräson je nach Geschichte des jeweiligen Staates und muss von den Regierenden ausgedeutet werden.
Dabei ist die Diskussion um die Staatsräson längst keine politische Debatte mehr um die Frage der Solidarität mit Israel, sondern auch eine Debatte, in der ausgehandelt wird, wie Herrschaft in Demokratien funktioniert. Wie lassen sich Regierungen überhaupt noch überprüfen, wenn deren Handeln nicht mehr durch Recht und Gesetz legitimiert sein muss, sondern durch ein ureigenes Interesse des Staates, dass die Regierenden selbst formulieren können?
Eine ähnliche Tendenz lässt sich aktuell in den USA beobachten, wo nach neuester Rechtsprechung des Supreme Courts die Handlungen des Präsidenten gerichtliche Immunität besitzen und demgemäß juristisch nicht angegriffen werden können (»the king can do no wrong« – der König kann kein Unrecht tun). Es ist keineswegs das erste Mal, dass die Frage über die Bindung der vollziehenden Gewalt an Recht und Gesetz im deutschen Staatsrecht relevant wird. Zu denken wäre etwa an den Hochverratsprozess gegen Karl Liebknecht im Jahr 1907 oder die Notstandsgesetzgebung der ersten großen Koalition in Westdeutschland 1967.
Resolution mit Rechtscharakter
Welche Wirkung die »Staatsräson« entfaltet, zeigt sich anhand der Resolution des Bundestags vom 17. Mai 2019 »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«, die mit der großen Mehrheit der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen verabschiedet wurde. Die Resolution fordert öffentliche Träger auf, jede Raumzuweisung oder Mittelvergabe an Personen, die der BDS-Bewegung nahestehen, zu unterlassen. Die Resolution ist rechtlich fragwürdig und wurde von verschiedener Seite scharf kritisiert. Vergleichbare Beschlüsse – wie zum Beispiel der BDS-Beschluss des Münchner Stadtrats aus dem Jahr 2017 – wurden vom Bundesverwaltungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Die Resolution des Bundestags aber ist noch in Kraft. Der Grund dafür ist der Rechtscharakter der Resolution. Da der Bundestag nur »auffordere« und damit keine Rechtsbindung einhergehe oder in Rechte eingreife, kann die Resolution auch nicht individualrechtlich angegriffen werden (fehlendes Rechtsschutzbedürfnis). Die Resolution ist somit ein politisches Mittel der Regierenden, das nicht durch Gerichte überprüfbar ist und sich damit der demokratischen Kontrolle entzieht.
Diese bürgerliche Regierungspraxis wiederholt sich nun mit der Resolution »Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken«, die am 7. November 2024 im Bundestag mit der Mehrheit der Stimmen von SPD, FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen sowie der AfD beschlossen wurde. Die parlamentarische Gruppe des BSW stimmte dagegen, die Mitglieder der Linkspartei enthielten sich. Bereits im Vorfeld hatte es scharfe Kritik an der Resolution gegeben. Amnesty International startete zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen einen Appell gegen die Resolution und sprach von der Gefährdung von Grundrechten. Eine Gruppe von Juristen um den Göttinger Professor Kai Ambos wandte sich in einem offenen Brief an die Bundestagsfraktion und kritisierte den Gebrauch der IHRA-Definition² sowie damit einhergehende Meinungsprüfungen bei staatlicher Fördermittelvergabe. Dieselbe Kritik wurde von Barbara Stollberg-Rilinger, der Rektorin des Berliner Wissenschaftskollegs, vorgebracht. Auch zahlreiche weitere Organisationen wie Medico International, Pax Christi, der »Rat für die Künste Berlin« usw. kritisierten die Resolution.
»Importierter Antisemitismus«
Gleich zu Beginn der Resolution rücken die Verfasser islamistischen und »links-antiimperialistischen« Antisemitismus ins Zentrum. Die starke Zunahme von Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 gehe »auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens« zurück. In den Worten der AfD: »importierter Antisemitismus«. Dass der politische Rechtsextremismus für mehr als 60 Prozent aller antisemitisch motivierten Straftaten verantwortlich ist, bleibt genauso außen vor wie der rechtsterroristische Anschlag auf eine Synagoge in Halle (Saale), der im Jahre 2019 zwei Todesopfer forderte.
Statt dessen findet die Berlinale Erwähnung, in deren Rahmen der israelische Journalist und Regisseur Yuval Abraham anlässlich einer Preisverleihung die israelische Besatzungspolitik als »Apartheid« kritisiert hatte. Die Leitmedien hatten daraus einen Antisemitismusskandal gemacht; Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) äußerte in dem Zusammenhang den denkwürdigen Satz, sie habe nicht für den Palästinenser geklatscht. Die Familie Yuval Abrahams erhielt im Anschluss Morddrohungen.
Dass in einer Resolution des Deutschen Bundestages, im Land der Täter, hauptsächlich »Ausländer« und »Linke« für den überbordenden Antisemitismus verantwortlich sein sollen, ist an Zynismus nicht zu überbieten. Anders ließ sich wohl die rechtsextreme AfD nicht gewinnen, die sich in der Debatte im Bundestag (in Form von Beatrix von Storch) ausdrücklich bei den Grünen für die Übernahme ihrer Positionen bedankte. Eine Entwicklung, die nicht überrascht: Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger ist ja auch noch im Amt.
Natürlich fehlt auch die Staatsräson nicht in der Resolution. Die deutsche Staatsräson würde den Schutz jüdischen Lebens und somit auch das Existenzrecht des Staates Israel enthalten, heißt es da. Warum zur Staatsvernunft eines Staates ein völkerrechtlich nichtexistierendes Recht auf Existenz eines anderen Staates enthalten sein sollte, wird nicht erklärt, ebensowenig, warum dieser scheinbar zentrale Grundsatz deutscher Staatlichkeit erst sechzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik artikuliert wurde und nicht schon früher. Eine Antwort wäre, dass dieser Grundsatz vor Angela Merkel schlichtweg nicht existiert hat bzw. niemand auf die Idee gekommen ist, die israelsolidarische Politik der Bundesregierung dergestalt politisch zu legitimieren. In anderen Kontexten nennt man das Geschichtsrevisionismus.
Die neue Resolution beruft sich auch auf ihren Vorgänger, die BDS-Resolution von 2019, und bekräftigt diese. Damit ignoriert der Deutsche Bundestag die ständige Rechtsprechung deutscher Gerichte, die Maßnahmen, die sich aus dieser Resolution ableiten, wiederholt für rechtswidrig erklärt hat.³ Ein Umstand, der den rechtspolitischen Sprechern der Fraktionen bekannt sein dürfte. Man muss also davon ausgehen, dass deutsche Behörden hier zu rechtswidrigem Handeln aufgefordert werden.
Problematische Definition
Den Kern der Resolution bildet die Heranziehung der IHRA-Definition. Diese lässt sich im Kontext des bürgerlichen Antisemitismusdiskurses durchaus als hegemonial bezeichnen, auch wenn es bereits eine formulierte Gegendefinition in Form der Jerusalem Declaration on Antisemitism gibt.⁴ Die Resolution schlägt vor, dass deutsche Behörden die IHRA-Definition als maßgeblich heranziehen, um zu prüfen, ob Bundesmittel im Rahmen der Fördermittelvergabe an Organisationen oder Vereine vergeben werden, die Antisemitismus verbreiten.
Das Problem an der ganzen Sache ist jedoch: Die IHRA-Definition ist für diesen Zweck absolut ungeeignet. Sie wurde ausdrücklich nicht für einen rechtlichen Tatbestand entwickelt und ist mit Absicht offen formuliert. Ein entsprechender Versuch des Kultursenators von Berlin, Joe Chialo (CDU), scheiterte im vergangenen Jahr. Eine Implementierung dieser Definition in Gesetzen und Ordnungen würde zu einer Einstufung von legitimer Kritik an israelischer Politik als Antisemitismus und einer Einschränkung der Kunst- sowie Wissenschaftsfreiheit führen. Skandale sind vorgezeichnet.
Darüber hinaus sollen laut Resolution Gesetzeslücken geschlossen und repressive Maßnahmen ausgeschöpft werden. Ein Fokus solle hier vor allem auf dem Asyl-, Aufenthalts- und Staatsbürgerlichkeits- sowie dem Strafrecht liegen. Das bedeutet weitere Verbote und Kriminalisierung von Protest gegen die rechtsextreme Regierung Israels, eine Gesinnungsprüfung bei Einbürgerung und erleichterte Abschiebungen. Ausdrücklich hervorgehoben wird die Kunst- und Kulturpolitik: Hier sollen haushälterische Lösungen erarbeitet werden, die sicherstellen, dass keine Mittel an Projekte vergeben werden, die politisch unliebsam sind bzw. unter die IHRA-Definition fallen. Das ist zweifellos auch eine Reaktion auf die Berliner Vorfälle; Kultursenator Chialo wollte dem Kulturzentrum Oyoun zunächst wegen Antisemitismus die Mittel streichen, eine Prüfung kam zu dem Schluss, dass es dafür keine Anhaltspunkte gebe. Der Senator setzte die Mittelstreichung dann trotzdem durch.⁵ Derartige Vorgänge wären bei einer Umsetzung der Resolution stark vereinfacht und geltendes Recht. Eine ähnliche Klausel bezüglich der Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen steht zwar nicht in der Resolution, die Verfasser heben aber die Erforderlichkeit eines hochschulgesetzlichen Ordnungsrechts – eine Idee der Berliner AfD – hervor, das auch schon in der Berliner Landespolitik kontrovers diskutiert wurde. Im März 2024 hatte der Berliner Senat bereits eine Verschärfung des Hochschulgesetzes beschlossen und die Möglichkeit der Exmatrikulation, die erst 2021 abgeschafft worden war, wieder eingeführt.
Auch wenn die beschlossene Bundestagsresolution nicht rechtsverbindlich ist, kann man doch davon ausgehen, dass sie eine ähnliche politische Wirkung wie die vorherige BDS-Resolution entfalten wird. Deutsche Bundes-, Landes- sowie Kommunalbehörden werden sich an ihr orientieren, was zu Grundrechtsverletzungen führen wird, gegen die lange und teure Verfahren über mehrere Instanzen geführt werden müssen, um solche Maßnahmen zu annullieren. Hinzu kommt, dass die Resolution über den ordentlichen Rechtsweg nicht aus der Welt zu schaffen ist, weshalb in puncto Rechtssicherheit erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen sollten.
Die Resolution des Bundestags begründet die Gefahr drastischer Grundrechtseinschränkungen und der Kriminalisierung von antiimperialistischem Protest unter dem Vorwand der Bekämpfung des Antisemitismus. Die Verfasser sind sich bewusst, dass sie zu rechtswidrigem Handeln in Form eines Beschlusses aufrufen, der vor deutschen Gerichten aufgrund von Rechtsdogmatik nicht thematisiert werden kann. Hier wird staatliches Handeln nicht an Recht und Gesetz geknüpft, sondern an ein dieses Recht überschreitendes, nicht demokratisch festgelegtes Interesse. Es wird sich lediglich auf die Staatsräson berufen, wenn Maßnahmen durchgesetzt werden sollen, die gegen Recht und Gesetz verstoßen, andernfalls könnte man sich ja im Rahmen der Rechtsordnung des Grundgesetzes bewegen und bedürfte nicht solcher Methoden.
Das ist der Kern der Staatsräson. Wenn Regierende ein bestimmtes politisches Ziel zur Staatsräson ausrufen, dann hat das Recht diesem Ziel nachzugehen. Das Interesse des Staates geht vor, die Grundrechte jedes einzelnen sind nachrangig. In der aktuellen Situation wird die Staatsräson verbunden mit der Bekämpfung des Antisemitismus. Getreu dem Motto: Wenn es gegen Judenhass geht, wen interessiert dann noch das Versammlungsrecht oder die Wissenschaftsfreiheit.
Carl Schmitt grüßt
Aber ist das Herrschaftsinstrument »Staatsräson« überhaupt vorgesehen in einer Demokratie? Verträgt es sich mit der Grundformel aus Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz (GG), welche besagt, dass die vollziehende Gewalt (Regierung) an Recht und Gesetz gebunden ist? Die Bundesrepublik wurde 1949 als eine parlamentarische Demokratie gegründet. Der Parlamentarische Rat, der die Rolle des Verfassungsgebers übernahm, legte großen Wert darauf, die staatsorganisationsrechtlichen Fehler der Weimarer Verfassung nicht zu wiederholen. Aus Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« wissen wir, dass die Machtübernahme der Nazifaschisten nur durch die Entwertung von Rechten möglich wurde, indem marginalisierte Gruppen ihrer Rechte und dann ihrer Menschlichkeit beraubt wurden. Daraus haben die Verfasser des Grundgesetzes gelernt. Grundsätze wie die Menschenwürde aus Artikel 1 GG sind unabänderlich, aus Artikel 79 Absatz 3 GG geht eine Ewigkeitsgarantie hervor. Die Grundsätze der Artikel 1 und 20 GG können auch durch Zweidrittelmehrheit nicht geändert werden. An diesem Ast wird jetzt gesägt, indem die Regierenden mit dem System der Staatsräson Rechtssätze schaffen, die über der Verfassung stehen.
Die Art der Argumentation ist zutiefst reaktionär und historisch problematisch, denn die hinter der Staatsräson stehende Systematik bildete den Kern der Rechtslehre Carl Schmitts. Der Kronjurist des deutschen Faschismus vertrat die Position, dass der Staat durch Formalrecht (also Recht) die Durchsetzung wahrhaftiger Gerechtigkeit blockiere. Wenn es nötig wäre, müsste der Staat sein eigenes Recht brechen und Gerechtigkeit durchsetzen. Diese Systematik bildete das Schlüsselargument, um Menschengruppen nach der Machtübertragung 1933 erst zu entrechten und dann zu entmenschlichen.
Wozu überhaupt braucht es die Staatsräson in einem demokratisch organisierten Staat? Die staatsrechtliche Kategorie der Staatsräson ist das Gegenteil von Demokratie, in der sämtliche Handlungen des Staates demokratisch legitimiert sein müssen und dies nur in den Grenzen von Recht und Gesetz stattfinden kann, welche jeweils wieder demokratisch legitimiert sein müssen. Staatsräson steht für ein autoritäres Konzept von Obrigkeitsstaatlichkeit, ein Konzept der Restauration. Entweder ist die Verfassung die höchste Rechtsquelle der demokratischen Staatlichkeit, oder sie ist es nicht. Eine Abweichung von diesem Grundsatz öffnet den Antidemokraten und staatlicher Willkür Tür und Tor.
Die Beziehung von Sozialisten und Kommunisten zum bürgerlichen Staat ist seit jeher zwiegespalten. Zu Zeiten der Weimarer Republik gab es eine klare Trennung der beiden großen Parteien der Arbeiterklasse: SPD und KPD. Dieses Verhältnis sollte sich nach dem Krieg jedoch grundlegend ändern. So formulierte der KPD-Vorsitzende Max Reimann, dass man als Kommunisten dem Grundgesetz zwar nicht zustimmen werde, der Tag aber kommen werde, an dem dieses gegen seine Verfasser verteidigt werden müsse. Seit jeher fiel der sozialistischen Linken in der Bundesrepublik in diesem Sinne eine gewisse Politik der Verteidigung zu. Nach der Meinung des Juristen und Sozialisten Wolfgang Abendroth stellt die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes ein erkämpftes Transformationsfeld. Durch die Feststellung, die Bundesrepublik sei ein »sozialer Bundesstaat«, wäre die Möglichkeit gegeben, dass die demokratisch organisierte Gesellschaft sich selber umformen könnte, von einer monopolkapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft. Dies kann nur durch das Garantieren der politischen Freiheitsrechte des Grundgesetzes im politischen Kampf erreicht werden. Daher müssen sich Sozialisten in diesen Kämpfen stetig engagieren, um das Transformationsfeld zu erhalten.
In einem ähnlichen Verhältnis stehen die Grundrechte und der Kampf gegen den Antisemitismus. In der aktuellen Debatte hört man oft, dass Grundrechte dort enden, wo Antisemitismus beginnt. Dass also ein Widerspruchsverhältnis zwischen dem Kampf gegen den Antisemitismus und den garantierten Grundrechten bestehe. Der Gedanke dahinter ist, dass die Menschenwürde (Artikel 1 GG) den politischen Freiheitsrechten entgegenstehe. Das ist ein Trugschluss. Die Menschenwürde ist nicht Kontrahent der politischen Freiheitsrechte, sie ist deren Begründung. Die Grundrechte und der soziale Rechtsstaat sind Grundvoraussetzung für den Kampf gegen den Antisemitismus und fungieren als Bollwerk gegen den Faschismus.
Wenn der Staat mit Begründung eines autoritären Herrschaftsinstruments, welches bewusst Recht bricht, die Freiheitsrechte im Namen der Israel-Solidarität attackiert, dann erweist er dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst und läuft Gefahr, Einfallstore für autokratische und diktatorische Umdeutungen der Grundrechte zu schaffen, wie es in der Endphase der Weimarer Republik praktiziert wurde. Nur ein Beharren auf dem sozialistischen Gehalt des Grundgesetzes als Voraussetzung für einen sozialistischen und antifaschistischen Kampf garantiert eine erfolgreiche Politik gegen faschistoide Tendenzen innerhalb der Gesellschaft und damit auch gegen Antisemitismus.
Anmerkungen:
1 Siehe Mariam Salameh-Puvogel: Mit aller Härte. In: junge Welt vom 2.10.2024
2 Vgl. holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus
3 Vgl. www.bverwg.de/200122U8C35.20.0
4 jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf
5 www.jungewelt.de/artikel/482251.repression-gegen-pal%C3%A4stina-bewegung-berliner-kulturkampf.html
Update: In einer früheren Version dieses Textes hatte es geheißen: »Auch eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Parlaments kann die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes nicht ändern.« Diese Formulierung wurde geändert.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (20. November 2024 um 14:53 Uhr)Was folgt aus all dem hier Dargelegten? 1. Es ist gar nicht so schwer, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beiseite zu fegen. Die Berliner Republik wird damit der Weimarer Republik in ihrem Endstadium immer ähnlicher. 2. Die Regierenden sind längst dabei, das zu tun, nennen das Ganze diesmal aber nicht »Notverordnung«, sondern probeweise mal Staatsräson. 3. Was für ein Staat entstehen kann, wenn die Garantien dieses Grundgesetzes nicht mehr gelten, ist in der Deutschen Geschichte 1933–1945 nachlesbar. »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht« (Heinrich Heine).
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert S. aus München (19. November 2024 um 23:17 Uhr)Ziemlich genau so konnte mensch sich die deutsche Wiederfaschisierung bereits vor etlichen Jahren vorstellen. Dass das so einfach funktioniert, ist eigentlich kein Wunder in einem System, das von Anfang an de facto ein Unrechtsregime war und bis heute ist. In welchem »Rechtsstaat« oder »Demokratie« nur leere Propagandafloskeln sind, deren Verwendungszweck nur darin besteht, per Massenhirnwäsche die Realität zu verdecken: Mit Kapitalismus kann es keine Demokratie und erst recht keinen Rechtsstaat geben, nur institutionalisiertes Verbrechertum. So führt Kapitalismus – aufgrund der global, aber im Zeitverlauf regional ungleichmäßig wirksamen Tendenz der fallenden Profitraten früher oder später immer (!) zu Faschismus, also dem größtmöglichen Menschheitsverbrechen überhaupt. Daraus folgt: Kapitalismus ist selbst das Menschheitsverbrechen Nr. 1 und all seine Protagonisten sind Menschheitsverbrecher der denkbar allerübelsten Sorte. Auch ein wesentlicher Teil dieses Übels von Faschisten ist der in ihnen durch die entsprechenden gesellschaftlichen Prozesse psychodynamisch fest angelegte Todestrieb, mittels derem sie nicht nur unbewusst sich selbst vernichten, sondern noch soviel wie möglich Leben mitnehmen wollen. Daher hätte mensch bei den Nürnberger Prozessen nicht nur ein paar Hand voll, sondern i.S. der Popperschen Intoleranz »2. Grades« zur wirksamen Prävention ausnahmslos allen Nazi-Schergen und Kapitalisten den Prozess machen müssen. Eine nicht verwirklichte historische Utopie und fataler Fehler. Ein Nürnberg 2.0 wird es aber wohl nicht geben, denn die aufgrund des technologischen Fortschritts bei gleichzeitiger ethischer Stagnation der Menschheit künftige Dystopie erledigt das ganz von allein: Niemensch wird den aktuell aufkeimenden Faschismus überleben, den der Bundestag als Institution des kapitalistisch bedingten Unrechts u.a. mittels dieser verbrecherischen Resolutionen mit voran treibt. Kein Mann, keine Frau, kein:e Diverse:r, kein Kind, kein (Quasi-)Faschist.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (19. November 2024 um 21:10 Uhr)… und warum soll Carl Schmitt nicht grüßen? Passt doch zu diesem Land, wo die Mitte rechts ist, um es mit Kurt Lenk zu sagen. »Staatsräson« sollte man aber nie, nicht einmal, mit »Staatsvernunft« übersetzen. Denn Staatsräson definiert als »voluntas, necessitas und utilitas« (»Wille, Notwendigkeit, Nützlichkeit«) ist Staatswillkür!
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