Rotlicht: Erkenntnis
Von Marc PüschelDeutsch ist eine tiefsinnige Sprache: Mit geringfügigen Wortveränderungen, etwa durch Präfixe, können unterschiedliche, doch verwandte Bedeutungen ausgedrückt werden. So ist zum Beispiel etwas, wenn es bekannt ist, darum noch nicht erkannt. Entsprechend auch meint »Erkenntnis« mehr als »Kenntnis« (bloßes Wissen, dass etwas da ist) und baut doch zugleich auf ihr auf.
Erkenntnis ist Einsicht in das Wesen oder den Kern einer Sache, eben daher aber setzt sie die Bekanntschaft mit ihren Erscheinungen voraus. Wie das Wesen einer Sache selbst einzigartig ist, so ist ihre Erkenntnis ein einmaliger bzw. neuer Vorgang. Gerinnt sie und wird selbstverständlich, nennen wir sie Wissen. Heute lernt jeder Neuntklässler den Satz des Pythagoras, doch die geometrische Erkenntnis schreiben wir nur dem alten Griechen zu. Nicht jede Art Wissen aber beruht auf Erkenntnis. Bereits in der alten indischen Mathematik wusste man um den Sachverhalt, den der Satz des Pythagoras ausdrückt, ohne ihn jedoch beweisen zu können. Erkenntnis ist also mehr als eine zufällig stimmende Auffassung einer Sache, sie ist begründetes Verstehen von Zusammenhängen.
Sofern es begründbar sein soll, ist dieses Verstehen auch Erkenntnis über Erkenntnis. Nicht nur wird eine Sache verstanden, wir verstehen zugleich, wie wir zum Verständnis der Sache kommen, etwa durch einen mathematischen Beweis oder ein empirisches Experiment. Daher hebt mit dem wissenschaftlichen Denken bei den alten Griechen auch die Reflexion ein, das Gnothi sautón (Erkenne dich selbst).
Aus diesem Anspruch, den Sokrates auf seine nervtötende Weise (erkennste, erkennste?) auf alle Wissensbereiche ausdehnte, ergeben sich rasch die entscheidenden Fragen: Wie erkennen wir, und was können wir erkennen? Die Antworten sind mannigfaltig, doch gibt es in der Geschichte zumindest zwei große Tendenzen. In der Antike und im Mittelalter war man überzeugt, Erkenntnis komme vor allem durch reines Denken zustande – unabhängig davon, ob man zunächst von Einzelbeobachtungen zum Allgemeinen aufsteigt oder ob etwas intuitiv-unmittelbar eingesehen wird. Erst in der Neuzeit wandelte sich diese Auffassung.
Vor dem Hintergrund der kapitalistisch-rationalen Durchdringung und Beherrschung der Natur wurde als erkennbar nun vorrangig das Menschengemachte verstanden. Mit der Methode des systematischen Experimentierens gelang dieses »Verum factum«-Prinzip zum Durchbruch. Differenzen traten vorrangig nur noch in der Frage auf, was genau der Mensch macht. Das »Verum factum«-Prinzip wurde so grundlegend, dass es schließlich das Denken selbst betraf: In Kants Philosophie ist eine sichere Erkenntnis nur diejenige, die wir durch unser eigenes Denken, durch unsere Kategorien selbst erzeugen.
Der Marxismus knüpft hier zwar an, betont aber zugleich, dass wir durch unsere praktische Tätigkeit mehr erkennen können als nur unser eigenes Denken. »Die schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern philosophischen Schrullen«, so schreibt Friedrich Engels, »ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfaßbaren ›Ding an sich‹ zu Ende.«
Unsere Praxis wiederum steht immer in konkreten Lebenszusammenhängen und daher unter dem Vorzeichen unserer Bedürfnisse. »Erkenntnis und Interesse« (wie ein Frühwerk von Jürgen Habermas heißt) lassen sich daher nicht getrennt denken. Nicht nur entspringt Einsicht aus der Erfahrung mit der Lebenswirklichkeit, Erkenntnis wiederum ermöglicht gelingende Praxis überhaupt erst. Oder mit Brecht gesagt: Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
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