Rätsel um Ding Liren
Von Sören BärEs ist ein brisantes Match: Beim ersten Duell um den Titel des Schachweltmeisters wird am 25. November in Singapur der 18jährige indische Weltranglistenvierte Gukesh Dommaraju mit Weiß gegen den auf Position 23 abgerutschten Titelverteidiger Ding Liren (China) eröffnen. Nach 14 Partien steht im Dezember fest, ob Gukesh zum jüngsten Weltmeister aller Zeiten avanciert oder der 32jährige Ding den Titel behaupten kann.
Damit sitzen sich erstmals zwei Asiaten im Kampf um die Schachkrone gegenüber – eine Premiere, die in den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Erde auf enormes Interesse stößt. In Indien förderte die Ägide des langjährigen Weltmeister Viswanathan Anand die Popularität des königlichen Spiels, so dass sich allein 1.000 indische Journalisten für das aktuelle Match akkreditiert haben. Ding hat sich bereits unsterblich gemacht, als er mit seinem WM-Triumph 2023 den chinesischen Plan des »Großen Drachen« nach fast fünfzig Jahren erfüllte. Dieser sah vor, den WM-Titel sowohl bei den Frauen – aktuelle Championesse ist Ju Wenjun – als auch bei den Männern zu erobern und beide Mannschaftsdisziplinen zu dominieren. Ding schloss das Kandidatenturnier 2022 in Madrid zwar auf Platz zwei hinter Jan Nepomnjaschtschi (Russland) ab, durfte aber dennoch die WM-Partien gegen den Russen bestreiten, weil sich Weltmeister Magnus Carlsen (Norwegen) weigerte, seinen Titel zu verteidigen. Carlsen wollte die WM-Kämpfe revolutionieren und eine kürzere Bedenkzeit einführen, was beim Weltverband FIDE nicht auf Gegenliebe stieß. Ding gewann den WM-Titel 2023 im kasachischen Astana nach einem 7:7-Unentschieden im Schnellschach-Tiebreak 2,5:1,5.
Die Leistungsentwicklung von Titelverteidiger und Herausforderer verlief zuletzt diametral. Bei Dings Auftritten entstand der Eindruck, er wäre durch einen weniger kundigen Doppelgänger ersetzt worden. Seinen enttäuschenden achten Platz beim GCT Superbet Chess Classic in Bukarest (Rumänien) im Mai 2023 führte man noch auf die verständliche Erschöpfung nach der WM zurück. Anschließend kämpfte er jedoch mit Depressionen und nahm von Mai 2023 bis Januar 2024 an keinem Turnier teil, ging statt dessen zweimal in die Klinik. Beim Comeback in Wijk aan Zee im Januar 2024 erreichte er einen ernüchternden Rang neun. Auch bei der Schacholympiade im September in Budapest war der Champion vorwiegend darauf bedacht, Niederlagen zu vermeiden – was nicht gelang. Er verlor eine Begegnung, blieb ohne Gewinnpartie und wich Gukesh aus, indem er im Match gegen Indien pausierte. Und erlebte einen beispiellosen Absturz von Weltranglistenplatz zwei (hinter Carlsen) auf Position 23. Sein fehlendes Selbstvertrauen zeigte sich daran, dass er sogar in klar besseren Stellungen mit einem Remis einverstanden war.
Derweil legte der 18jährige Gukesh 2024 einen unaufhaltsamen Aufstieg hin. In Wijk aan Zee teilte er mit 8,5 Punkten den ersten Platz. Beim Kandidatenturnier in Toronto, wo er mit einem halben Punkt vor Fabiano Caruana, Hikaru Nakamura und Nepomnjaschtschi gewann, qualifizierte er sich als jüngster WM-Herausforderer aller Zeiten. Auch bei der Schacholympiade brillierte er mit neun Punkten aus zehn Partien, womit er sowohl die Goldmedaille für die beste Einzelleistung am Spitzenbrett als auch mit der Nationalmannschaft Indiens errang.
Wer aber nun Ding eine krachende Niederlage prophezeit, könnte sich irren. Der Chinese verliert aufgrund seines risikoarmen Stils äußerst selten – in einem Zweikampf ein unschätzbarer Vorteil. Von August 2017 bis November 2018 beendete er 100 aufeinanderfolgende Partien ungeschlagen und katapultierte sich damit auf seine bislang höchste ELO von 2.816. Hat der Titelträger seine Nerven im Griff, ist er schwer zu schlagen. Großmeister Lothar Vogt, zweifacher DDR-Meister aus Leipzig, meint: »Ich hoffe sehr, dass Ding seine Probleme überwunden hat. Dann wird es ein Match auf Augenhöhe. Wenn nicht, ist Gukesh Favorit.« Sein in Luxemburg lebender Kollege Yannick Pelletier, sechsmal Schweizer Champion, pflichtet ihm bei: »Alles hängt von Dings Zustand ab. Wenn er sich nicht erholt und so spielt wie im letzten Jahr, hat er kaum eine Chance.« Der Chinese ist ein introvertierter Typ, hat allerdings weit mehr Erfahrung als sein Opponent. Schon vor dem WM-Kampf 2023 hatte er im Januar mit 5,5 aus 13 in Wijk aan Zee enttäuscht. Doch sowohl 2023 als auch 2024 gewann er dort zwei überragende Partien – sein Gegner beide Male: Gukesh Dommaraju.
Der Modus
Das Match um die Schach-WM 2024 in Singapur wird über 14 Partien mit klassischer Bedenkzeit ausgetragen. Beide Spieler erhalten in jeder Partie zunächst eine Bedenkzeit von zwei Stunden für 40 Züge, danach folgen jeweils weitere 30 Minuten für den Rest der Partie sowie ein Zeitinkrement von 30 Sekunden pro Zug ab dem 41. Zug. Nach drei Spieltagen ist jeder vierte Tag ein Ruhetag. Weltmeister wird der Spieler, welcher zuerst 7,5 Punkte erreicht. Sollte nach 14 Partien ein 7:7-Gleichstand herrschen, wird der Champion am 13. Dezember in einem Schnellschach-Tiebreak über vier Partien gekürt. Dann gilt eine verkürzte Bedenkzeit von 25 Minuten und 10 Sekunden Zeitbonus pro Zug. Dieser Fall trat in drei der letzten vier WM-Matches ein. Magnus Carlsen benötigte 2016 gegen Sergej Karjakin (Russland) und 2018 gegen Fabiano Caruana (USA) jeweils den Stichkampf, um seinen Titel zu verteidigen. Ding Liren erobert die WM-Krone 2023 durch einen 2,5:1,5-Sieg in der Verlängerung gegen Jan Nepomnjaschtschi (Russland). Nur 2021 gewann Carlsen das WM-Match gegen Nepomnjaschtschi vorzeitig mit 7,5:3,5. Die Partien beginnen um 10 Uhr MEZ (17 Uhr Ortszeit) und werden auf dem offiziellen Youtube-Kanal des Weltverbandes FIDE live übertragen.
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