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Von Matthias Reichelt»›The Ballad of Sexual Dependency‹ (Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit) ist das Tagebuch, das ich die Leute lesen lasse. Das Tagebuch ist meine Form der Kontrolle über mein Leben. Es erlaubt mir, zwanghaft jedes Detail aufzuzeichnen. Es ermöglicht mir, mich zu erinnern.« So Nan Goldin über ihre berühmteste und auch eindringlichste Arbeit, die maßgeblich ihren künstlerischen Erfolg begründete. Die Multimediaarbeit, benannt nach Bertolt Brechts Ballade aus der »Dreigroschenoper«, widmete sie ihrer selbstgewählten neuen Familie aus schwul-lesbischen Menschen, Dragqueens und Drogensüchtigen, die das Leben auf ihre Weise in den 1970er und 1980er Jahren in den Clubs feierten und durch AIDS mit Siechtum und Tod konfrontiert wurden.
Dieses Werk wurde über die Jahre von Goldin mehrfach überarbeitet und modifiziert. Eine sehr frühe Version des aus Dias bestehenden und mit Musik kombinierten »Familienalbums« zeigte Goldin übrigens 1979 bei Frank Zappas Geburtstagsfeier im Mudd Club in Tribeca, Manhattan. Heute enthält die großartig choreographierte Fassung eine Abfolge von circa 700 Dias und wird begleitet von einem fast 30 Songs umfassenden Soundtrack, der stark zu der emotionalen Wirkung beiträgt. Darunter unter anderem Charles Aznavour, Dionne Warwick, Screamin’ Jay Hawkins und nicht zuletzt Velvet Undergrounds »I’ll Be Your Mirror«. Dieser Song ist programmatisch für Nan Goldins Arbeit. Indem sie sich auch in großer Verletzlichkeit in privatesten Momenten selbst porträtiert und als Teil ihrer selbstgewählten Familie zeigt, spiegelt sie nicht nur ihre, sondern die Geschichte der ganzen subkulturellen Szene.
Der opulente Bilderreigen zeugt von großer Intimität und Freundschaft und zeigt Menschen im Rausch eines intensiven Lebens mit Ausgelassenheit, aber auch mit Selbstzerstörung und Gewalt. Dieses Werk kann nicht erst heute als Goldins wirkmächtiges Epitaph für viele ihrer an AIDS und Drogenkonsum gestorbenen Freunde verstanden werden, als Erzählung eines großen Verlustes. Dieses Motiv, die Verluste zu erinnern, zieht sich als roter Faden einer Trauerarbeit durch Goldins gesamtes Werk.
In der Dreikanal-Videoarbeit »Sisters, Saints and Sibyls« befasst sie sich mit ihrer Herkunft aus einer bürgerlich jüdischen Familie und dem traurigen Schicksal ihrer Schwester Barbara Holly Goldin. Diese rebellierte gegen die von ihr erwartete Konformität, wurde in Erziehungsanstalt und Psychiatrie gezwungen und warf sich verzweifelt mit 19 Jahren vor einen Zug, als Nan Goldin gerade elf Jahre alt war. Bilder aus »Sisters, Saints and Sibyls« integriert sie auch in andere Multimediawerke, so wie sie die Bilder ihres großen Archivs immer wieder neu mixt und in neuen Kontexten zeigt. Nahezu alle ihre Diashows und Multimediaarbeiten sind getragen von einem Mollton der Trauer.
Das Leben an sich
Nun gastiert nach Stockholm und Amsterdam die Retrospektive mit dem sibyllinischen Titel »This Will Not End Well« in der Neuen Nationalgalerie Berlin. Anschließend wird die Schau noch in Mailand und Paris zu sehen sein. Der vielschichtige Titel der Ausstellung, die sich anhand von sechs Projektionen in verdunkelten Pavillons unterschiedlicher Formen ausschließlich dem multimedialen Werk Goldins widmet, ist ein Kommentar zur globalen Situation mit Kriegen, Klimaauswirkungen und dem Erstarken autoritärer Regime. Andererseits bezeichnet er – ganz profan – das Leben an sich, das unweigerlich mit dem Tod endet. »The Other Side« (1992–2021), benannt nach einer queeren Bar im Boston der 1970er Jahre, ist eine liebevolle Würdigung der Vielfalt und Schönheit der Dragqueens und Transgenderszene. In »Memory Lost« (2019–2021) rekapituliert Goldin mit verschwommenen Landschaftsaufnahmen und intimen Selbstporträts die eigene Drogensucht. Unter anderem litt sie an einer Abhängigkeit von Oxycodon. 2022 porträtierte Laura Poitras mit ihrem Dokumentarfilm »All the Beauty and the Bloodshed« Nan Goldin als höchst engagierte Aktivistin im Kampf gegen die Familie Sackler, Inhaberin der Firma Purdue Pharma, deren Medikament Oxycontin süchtig macht und unzähligen Menschen das Leben kostete.
Nun engagiert sich Goldin lautstark gegen den Gazakrieg. Seit einem Jahr erhebt sie ausdrücklich als Jüdin ihre Stimme gegen den von der Anklage des Internationalen Gerichtshofs und der UN so bezeichneten Genozid durch Israel an den Palästinensern. Hierzulande stößt sie damit aufgrund der deutschen Staatsräson, immer an der Seite Israels zu stehen, komme was wolle, auf strikte Ablehnung bei staatlichen Instanzen. Doch bereits im Vorfeld war klar, dass Nan Goldin zu diesem Genozid, der in Deutschland immer noch relativiert wird, Stellung beziehen würde. Denn eine Trennung zwischen ihrem Aktivismus und ihrer auf Empathie basierenden Kunst wäre künstlich und naiv. Sie akzeptiert es nicht, dass der Angriff der Hamas und anderer Militanter auf israelischem Boden am 7. Oktober 2023, die Geiselnahme und der Mord an Israelis, den derzeitigen Krieg und seine Folgen für die Zivilbevölkerung legitimiert.
Bequeme Chronik
Diese bei der deutschen Politik und den staatstragenden Medien verbreitete Chronik ist bequem, denn damit lassen sich die jahrzehntelange Entrechtung, Vertreibung und Ermordung von Palästinensern durch Siedler und die israelischen Streitkräfte, wie zum Beispiel in dem eindrücklichen Dokumentarfilm »No Other Land« zu sehen, völlig ausblenden. Die Proteste propalästinensischer Aktivisten werden hierzulande schnell als antisemitisch diffamiert und sind polizeilicher Repression ausgesetzt.
Nachdem Goldin bei der Eröffnung vor einer Woche ihre eindrucksvolle Rede verlesen hatte, konnte sich der Direktor der Neuen Nationalgalerie, Klaus Biesenbach, mit seiner Gegenrede nicht gegen lautstarke Aktivisten durchsetzen und musste sie später vor weniger Publikum nochmals halten, um seine Position »We agree to disagree« öffentlich zu machen. Höflicher und respektvoller wäre es gewesen, ihm zuzuhören. Doch leider kann von Respekt und Höflichkeit gegenüber den propalästinensischen Aktivisten zumindest auf den Straßen und vielerorts in Institutionen in Deutschland auch nicht die Rede sein.
»This Will Not End Well«, Neue Nationalgalerie, Berlin, bis 6. Mai 2025
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