Ach so
Von Stefan GärtnerHeinz Strunk, das hat er selbst gelegentlich geschrieben, arbeitet an einem Gesamtwerk, und vielleicht machen das Schriftsteller alle, falls sie nicht jeweils an einem Einzelwerk arbeiten, das sich dann, mit den anderen Einzelwerken, zum Œuvre fügt. Nehmen wir Thomas Mann, dessen Jubiläumsjahr ja vor der Tür steht: Natürlich geht es da immer um den Bürger, um seine Kunst, aber eben auch und vorderhand um Kaufmannstugend, Sein und Zeit, den Teufelspakt mit dem Faschismus, Fiktion und Realität, Tod und Eros. Worum geht es bei Heinz Strunk, dessen neuer Roman »Zauberberg 2« sich in koketter, dabei aber, wie sich zeigen wird, programmatischer Lakonie aufs Jahrhundertbuch bezieht? »Alles fällt dem Vergessen anheim, die wesentlichen Fragen bleiben antwortlos, und mit sehr, sehr viel Dusel endet alles unentschieden, Glück und Unglück etwa ausgeglichen.«
Der Satz ist eine Variation, er ist bei Strunk schon dutzendmal gefallen, wie Strunks Kunst im ganzen eine Variation des immer selben Themas, der immer selben Motive ist. Noch literaturwissenschaftlich ganz Ungeschulten wird das sogleich wieder alles bekannt vorkommen: die existentiell verlorenen, dem Glück der Kindheit nachtrauernden Hauptfiguren, das groteske Kleinbürgertum um sie herum, das kommunikative Geruder, die schlechtgekleidete Verzweiflung. Nicht nur insofern ist »Zauberberg 2« ein Metaroman, in dem die Krankenstation, welche die Strunksche Welt immer schon war, als Sanatorium Gestalt gewinnt, allwo der junge depressive Startup-Millionär Jonas Heidbrink natürlich sehr viel mehr Zeit verbringt als vorgesehen. Der Reiz des Buchs besteht trotzdem nicht im Abgleich mit der berühmten Vorlage, dazu ist Strunk sich zu sehr Vorlage genug, und wenn ein spätes Kapitel unüberlesbar aus einer Collage von Originalsätzen besteht, weist der Anhang jeden davon akribisch nach – das Kleinbürgertum, das Strunk so stupend detailgetreu vorführt, hier west es selbst. Allerdings lässt sich im »Zauberberg 2« die Verwandtschaft einer Methode erkennen, und dass der Existentialist Strunk ein ideeller Nachfahre des Schopenhauerianers Thomas Mann ist, hätte ja nun nicht gleich vermutet werden müssen.
Mann, und hier folgt der Rezensent gern seinem alten Professor Kurzke, schreibt im Dreieck Wagner-Nietzsche-Schopenhauer: Von Wagner kommt der Effekt, von Nietzsche die Kritik daran, von Schopenhauer die Rechtfertigung, weil die geistige Lebensäußerung ohnehin nur auf dem Lebenswillen schwimmt wie das Auge auf der Brühe. »Jede Kritik«, heißt es dazu beim Nobelpreisträger, »auch die Nietzsches, neigt dazu, die Wirkungen einer Kunst als bewusste und berechnende Absicht in den Künstler zurückzuverlegen und die Idee des Spekulativen zu suggerieren – sehr fälschlich, ganz irrtümlich und gerade, als ob nicht jeder Künstler genau das machte, was er ist, was ihn selber gut und schön dünkt –, als ob es ein Künstlertum gäbe, dessen Wirkungen ihm selber ein Gespött und nicht zuerst auch Wirkungen auf ihn, den Künstler, gewesen wären! Möge Unschuld das letzte Wort sein, das auf eine Kunst anwendbar sei, – der Künstler ist unschuldig.« Und sein Werk notwendig eins der Ironie, die zwischen Effekt und Effektbewusstsein, der »Wirkung« und der eingestandenen Absicht vermittelt: Diese Wirkung, fasst Hermann Kurze zusammen, »ist unschuldig, weil sie ihre Schuld gesteht, weil sie mit einer Hand niederreißt, was sie mit der anderen aufbaute«, und also wäre das Gemachte, das offensiv Versatzstückhafte, das unübersehbar und fast obsessiv immer neu Arrangierte bei Heinz Strunk banalisierter Thomas Mann: Kunst, die ihre Künstlichkeit kunstlos verhandelt, weil längst alles bekannt und durchschaut ist und das medialisierte, entzauberte Leben das, was es bei Mann und Hans Castorp noch nicht war: ein sprachloses. »Ach so«, sagen Strunks Protagonisten, wenn sie Verständnis simulieren, wo es schlicht keins mehr gibt. »Die Autonomie des Effekts ist also nur Schein und legt in Wahrheit den Blick auf die Tiefenstruktur der Welt als Wille frei« (Kurzke), also auf das, was bei Strunk das vitale, dem Leben eingeschriebene Unglück ist, dem sich nur mit sehr, sehr viel Dusel entkommen lässt. Und mit, versteht sich, Kunst. Auch das ist Schopenhauer.
»Banal« trifft dabei nicht den Künstler, sondern die Umstände, und dass Strunks Sanatorium nicht mehr in Davos, sondern im unillustren vorpommerschen Flachland an der Grenze zu Polen liegt, darf gern was heißen. Und dann sind die Schwätzer Klaus und Zeissner (»Zwischen dem ersten und dem zweiten Satz besteht keinerlei Zusammenhang«) zwar Wiedergänger bewährter Strunkscher Typen, aber zugleich eine Parodie auf die Welterklärer Naphta und Settembrini, die ja ihrerseits bereits Parodien waren, bloß dass ihnen zur Welterklärung noch das ganze Arsenal abendländischer Bildung zur Verfügung stand, was man von Strunks Personal (»Der Wind fliegt unten zum Arschloch rein und vereist oben den Gaumen, was?«) nun wirklich nicht behaupten kann. Kultur, das ist nicht mehr der Akkord aus schön, gut und wahr, den der Erste Weltkrieg unter sich begräbt, sondern bloß ein Kulturabend von Idioten für Banausen: »Frau Dähne lauscht mit geneigtem Kopf und schweigt zu dem unverschämten Psychogequatsche. Keine weiteren Fragen. Ein Glück. Dr. Behr bittet Herrn Zander, das nächste Lied anzustimmen. Es ist eine selbstkomponierte Ballade mit dem Titel Hubschrauber. Dümmlich, aber gut gemeint.«
»Zauberberg 2« ist ein geradezu klassischer Strunk-Roman, und es liegt nahe, die Falle zu sehen, die darin liegt, sich selbst gewissermaßen zum Genre zu machen. Genre ist aber möglicherweise das, was von Kunst überbleibt, die sich entweder um den Preis des Kitsches neu erfinden kann oder um den der Ironie. Über die Ironie bei Thomas Mann haben die Seminare der Welt gewiss genug gesprochen; über die Strunksche wird noch zu reden sein. »Ich komm morgen wieder, versprochen« (Seite 214): gar kein Zweifel. Wir freuen uns darauf.
Heinz Strunk: Zauberberg 2. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2024, 288 Seiten, 25 Euro
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