Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 30.11.2024, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Untergang der »Beluga«

»Es gibt kein politisches Interesse an der Wahrheit«

Über den Tod dreier Seeleute beim Untergang des Sassnitzer Fischkutters »Beluga« in der Ostsee 1999, über Vertuschung und Verantwortung von Journalisten. Ein Gespräch mit Michael Schmidt
Interview: Frank Schumann
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Sassnitz, 1. April 1999: Anlandung des geborgenen Fischkutters SAS 104 »Beluga«

Seit einem Vierteljahrhundert beschäftigen Sie sich journalistisch mit dem Untergang des Sassnitzer Fischkutters »Beluga«. Streben Sie nach einem Rekord?

Ich strebe, wenn wir denn schon so pathetisch beginnen, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Bei jenem Unglück 1999 starben drei Menschen, und bis heute ist die Ursache des Untergangs unklar, obgleich doch die Ostsee zu den am besten überwachten Gewässern der Welt gehört. Und Gerechtigkeit deshalb, weil den Hinterbliebenen und den Kollegen der Toten weiszumachen versucht wurde und wird, die drei erfahrenen, umsichtigen Seeleute hätten den Untergang selbst verschuldet. Obgleich doch die meisten Expertisen vom Gegenteil ausgehen.

Also Fremdverschulden. ­Wodurch?

Die »Beluga« ist bei einer nächtlichen Überfahrt von Sassnitz nach Bornholm mit hoher Wahrscheinlichkeit unter eine gespannte Stahltrosse geraten. Diese drückte den Kutter binnen weniger Sekunden unter Wasser. Die Besatzung hatte keine Chance.

Woher weiß man das?

Die Riefen an Decksaufbauten, etwa am Bordkran, so die kriminaltechnischen Untersuchungen, lassen keinen anderen Schluss zu. Die Trosse muss so um die zwanzig Millimeter dick gewesen sein. Und sie war offenbar straff gespannt.

Ein Schleppverband also. Den muss man doch auf der »Beluga« gesehen haben? Solche Verbände werden markiert und nachts beleuchtet.

Und genau das ist der springende Punkt. Offensichtlich war dies nicht der Fall. Der Kutter muss blind in diese Trosse reingefahren und versenkt worden sein.

Aber es wird sich doch ermitteln lassen, um was für einen Schleppverband es sich gehandelt hatte. Jede Schiffsbewegung wird per Satellit, von Land und aus der Luft mit Radar und auch von anderen Wasserfahrzeugen beobachtet und dokumentiert. Als jüngst zwei Kommunikationskabel in der Ostsee gekappt wurden, wusste man sofort, dass ein chinesischer Frachter – der überdies aus einem russischen Hafen kam – wohl der Verursacher gewesen war und setzte ihn fest.

War er das wirklich? Man hört nichts mehr nach dem medialen Aufschrei … Wie schon nach dem Anschlag auf die Gaspipelines Nord Stream 1 und 2. Und nun, nachdem einiges auf ein ukrainisches Geheimkommando als Saboteure hindeutet, hüllt sich die deutsche Politik in Schweigen. Übrigens erfolgte der Anschlag im September 2022 unweit jener Stelle, wo die »Beluga« im März 1999 sank.

Sehen Sie da einen ­Zusammenhang?

Nein. Allenfalls darin, dass es erkennbar kein politisches Interesse gibt, die Wahrheit publik werden zu lassen.

Eine Verschwörung?

Das ist Blödsinn. Es gibt keine »finsteren Mächte«, die im Hintergrund die Strippen ziehen und Zusammenhänge verschleiern.

Sondern? Sie haben jahrzehntelang gemeinsam mit Ihrem im Vorjahr verstorbenen Kollegen und Freund Lutz Riemann¹ in dieser Sache recherchiert und wiederholt dazu publiziert.

Es gibt einen hinlänglichen Verdacht, aber keinen Beweis. Die Seeämter in Rostock und Hamburg behaupteten, es sei zuviel Wasser an Bord gewesen und noch weiteres eingedrungen, weil – entgegen einer Anweisung – von der Besatzung bestimmte Speigatten nicht verschlossen worden waren. Also Selbstverschulden. Die Ermittlungen der Stralsunder Staatsanwaltschaft liefen ins Leere und wurden eingestellt. Die Anwälte der klagenden Kapitänswitwe bissen auf Granit, die Interventionen beim Petitionsausschuss des Bundestages blieben ohne Erfolg. Und das Sekretariat des Petitionsausschusses des Europaparlaments nahm die Petition gar nicht erst an, weil diese »unzulässig« sei – die NATO sei keine Institution der EU, hieß es, folglich habe man auch keine Befugnis, in NATO-Dokumente einzusehen.

Moment mal: Was hat der Untergang der »Beluga« mit der NATO zu tun?

Möglicherweise einiges. Sechs Tage vor Beginn des Krieges der NATO gegen Jugoslawien am 24. März 1999 hielten Marineschiffe des Nordatlantikpaktes in eben jenem Seegebiet ein Manöver ab. Darum bestand und besteht der Verdacht, dass die »Beluga« zwischen die Kriegsschiffe geraten und die drei ostdeutschen Seeleute die ersten Toten dieses Kriegs gewesen sein könnten.

Es gibt Radar.

Kann man stören. Fischer bestätigen immer wieder den Ausfall ihrer Elektronik, wenn sie in die Nähe von NATO-Schiffen kommen. Mit Störsendern können die sich quasi elektronisch unsichtbar machen.

Satellitenbilder?

Ja, aus dem All kann man sogar Autokennzeichen erkennen. Da setzten die Anwälte auch an. Aber angeblich lagen keine Daten vor, oder sie waren schon gelöscht worden. Und die von Militärsatelliten waren tabu. Sowohl der westlichen wie der östlichen. Nicht nur die deutsche Marine mauerte. Auch die Russen.

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Michael Schmidt

Das macht die Militärs natürlich verdächtig, gewiss. Was aber macht Sie so sicher, dass hier ein Kriegsverbrechen vorliegt?

Natürlich belasten die Abwehr von Fragen und die Verweigerung von Auskunft die vermuteten Täter, das ist in jedem Krimi so. Und die Reaktion passt in das Narrativ der Geheimniskrämerei und der Kriegslügen, die uns fortgesetzt aufgetischt werden. Den Satz »Im Krieg stirbt als erstes die Wahrheit« kennen wir alle. Er stimmt. In bezug auf die »Beluga« haben wir eine Zeugenaussage. Danach hätten zwei Kriegsschiffe – ein deutsches und ein französisches – eine mehrere hundert Meter lange Stahltrosse am Bug festgemacht und zwischen sich gespannt. Dann seien sie auf Parallelkurs gegangen und mit straff gespannter Trosse gefahren. So würde man im Kriegsfall Minen aufbringen und kleine gegnerische Überwassereinheiten stoppen. Vielleicht haben die wirklich in der Ostsee für den Einsatz in der Adria trainiert.

Na, da haben Sie doch den Beweis?

Eben nicht. Der Zeuge wollte anonym bleiben, weil er um seinen Arbeitsplatz fürchtete. Darum konnten wir seine Aussage nicht verwenden. Gerüchte sind so wenig glaubwürdig wie anonyme Zeugen.

Womit wir bei der Verantwortung von Journalisten sind. Die Glaubwürdigkeit von Medien, namentlich deren Verlust, bringt die Leserschaft schon lange auf und diese Zeitung zum zutreffenden Werbespruch: »Sie lügen wie gedruckt – wir drucken, wie sie lügen.« – Der NDR, bei dem Sie und Ihr Kollege Riemann beschäftigt waren, hat Sie jahrelang bei Ihren Recherchen unterstützt.

Ja, das will ich gern betonen. Bei der »Beluga« fühlten sich alle Beteiligten und Betroffenen der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Was aber nichts an der Tatsache änderte, dass die vielen Fernsehbeiträge, die wir zum Untergang der »Beluga«, den Ermittlungen und deren unbefriedigenden Resultaten, von den Gesprächen mit Marineangehörigen oder den Gedenkveranstaltungen in Sassnitz brachten, nicht das Sendegebiet des Norddeutschen Rundfunks verließen. Es war aus Sicht der ARD-Oberen eben nur ein regionales Ereignis.

Im Unterschied beispielsweise zu den »Toten von Marnow« … Ich sah Sie am vergangenen Freitag auf einem Podium im Theater Ost in Berlin-Adlershof. Da diskutierten Sie mit Ihren einstigen TV-Kollegen Luc Jochimsen, Wolfgang Herles und Lutz Herden über Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit im Fernsehen und kamen dabei auf eben jenen ARD-Mehrteiler von 2021 zu sprechen.

Ja. Der spielte auch in Mecklenburg-Vorpommern, kam aber auf die große Bühne zur besten Sendezeit. Er war kein lokales Ereignis und sollte die ganze Republik erschüttern. Denn, und dies machte den Unterschied aus: Die Stasi war mit im Spiel.

Falls sich die Leser nicht mehr erinnern: Es ging in dieser konstruierten Geschichte um Tests westdeutscher Medikamente an ostdeutschen Probanden, also um Menschenversuche, die vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit, MfS, gedeckt und verschleiert wurden. Die Vertuschung reichte bis in die Gegenwart und sorgte für die titelgebenden Toten.

Es war abstrus, was dort zusammengerührt worden war. Die seit 1990 absichtsvoll verbreiteten Denunziationen und Klischees über die DDR wurden so überzogen, dass sich selbst die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Mecklenburg-Vorpommern empörte und zu einer Richtigstellung veranlasst sah. Zwei Journalisten des NDR gingen der Sache auf den Grund, wollten wissen, wie es sich mit den ungeklärten Todesfällen verhielt, welche es im Kontext klinischer Studien angeblich gegeben hatte. Es ging um viel Westgeld, das der Bereich Kommerzielle Koordinierung, KoKo, im DDR-Außenhandelsministerium unter Alexander Schalck-Golodkowski besorgt hatte, und um die Kollateralschäden, die das MfS vertuschte. Du liebe Güte, was für eine fiese Geschichte.

Und: Wurde sie von den Journalisten bestätigt?

Eben nicht. Seit 2013 hatten unabhängige Wissenschaftler in einem Forschungsprojekt akribisch alles untersucht, was es zum Thema zu untersuchen gab. Sie befanden, dass »alle Pharmafirmen« der Bundesrepublik zwischen 1961 und 1989 »klinische Studien in der DDR durchgeführt« hatten. »Das war zentral geregelt und wurde dann auch zentral organisiert«, bestätigte Professor Volker Hess, Leiter des Forschungsprojektes, bei dessen Vorstellung 2016. Diese Studien seien in der DDR nach damals international geltenden Standards durchgeführt worden. »Detaillierte Prüfpläne mussten eingereicht werden, für jede Testreihe war auch das Einverständnis der Probanden zwingend vorgeschrieben«, hieß es im Bericht des NDR. »Unregelmäßigkeiten oder grobe Verstöße sind nicht zu belegen.« Einer der wesentlichen Gründe, warum die Pharmakonzerne in die DDR gingen: Nach der Contergan-Katastrophe² war die Bereitschaft von Bundesbürgern, an medizinischen Tests teilzunehmen, verständlicherweise sehr gesunken. Fazit des Forschungsprojektes: Es hatte keine rechtsstaatswidrigen Menschenversuche in der DDR gegeben, die hätten vertuscht werden müssen.

Aber?

Der Film ist bis heute in der ARD-Mediathek abrufbar. Der Recherchebeitrag des NDR lief im Radio und ist online zu lesen – wenn er überhaupt dort gefunden wird. Die schockierenden Bilder und Dialoge des Films aber bleiben haften.

Es wurde jetzt eine zweite Staffel abgedreht.

Ich hörte davon. Wegen des großen Erfolges – über fünf Millionen Zuschauer damals im Fernsehen und mehr als vierzehn Millionen Zugriffe in der Mediathek. Die beiden Hauptdarsteller bekamen den Deutschen Fernsehpreis, der Autor – mehrfacher Grimme-Preisträger – den Deutschen Fernsehkrimipreis, der Regisseur den Preis des Deutschen Fernsehkrimifestivals in der Kategorie »Beste Krimiserie« und den Deutschen Hörfilmpreis in der Kategorie »Publikumspreis« … Das schrie nach Fortsetzung.

Die Verdummung geht also weiter.

Ich bin gespannt, wie bizarr es diesmal zugeht. Ist eben Kunst, kein Dokumentarfilm. Und in der Kunst ist alles erlaubt.

Noch einmal zurück zur »Beluga«. Was hat Sie persönlich motiviert, derart hartnäckig diese Geschichte seit nunmehr 25 Jahren zu verfolgen? Und mit dem Buch³ scheint die Sache für Sie auch noch nicht abgeschlossen.

Natürlich nicht. Es ist keine Langzeitstudie beabsichtigt nach dem Muster der Filme des Deutschen Fernsehfunks »Die Kinder von Golzow«, außerdem bin ich inzwischen Fernsehrentner. Ich würde mehrere Aspekte anführen. Da sind zunächst meine Herkunft und Ausbildung. Ich habe an der Leipziger Karl-Marx-Universität Journalistik studiert. Da gab es gewiss auch einigen ideologischen Unsinn, den man uns lehrte, aber vieles war ordentliches, solides Handwerk. Das hatten und haben wir etlichen jener Redaktionsmenschen voraus, die sich heute Journalisten nennen. Es ist gängige Praxis, auch Gerüchte und Vermutungen zur Nachricht zu machen, wenn es denn politisch in den Streifen passt.

Das begründet alles nicht Ihre Ausdauer in diesem Fall.

Doch. Es hat alles mit dem Selbstverständnis von Journalismus zu tun. Was ist dessen Funktion, was seine Aufgabe? Dranbleiben, Hintergründe aufdecken, unbequeme Wahrheiten aussprechen und bitte nicht dauernd moralisieren. In der bürgerlichen Gesellschaft maßt sich die Zunft die Rolle einer vierten Gewalt an. Ist sie das wirklich? Kontrolliert sie tatsächlich die Mächtigen? Oder sind sie mehrheitlich nur deren Lautsprecher? Betreiben sie nicht oft deren Propaganda? Wenn sie das nicht tun, sind sie weg vom Fenster und werden zu keiner Talkshow mehr eingeladen. Wolfgang Herles wurde als Leiter des Bonner ZDF-Studios abgelöst, weil er Kanzler Kohl und seine Vereinigungspolitik kritisiert hatte. Luc Jochimsens Kommentar in den ARD-»Tagesthemen« zum Jugoslawien-Krieg war ihr letzter, in welchem sie sich zur Frage von Krieg und Frieden äußern durfte. Wann haben Sie das letzte Mal Gabriele Krone-Schmalz oder Harald Kujat auf dem öffentlich-rechtlichen Bildschirm gesehen? Es dominieren Einseitigkeit und Einfalt und das Bedürfnis, nicht anzuecken. Wenn man im Falle der »Beluga« der Sache auf den Grund gehen wollte, war und ist diese Gefahr real. Und in die möchte man sich nicht sehenden Auges begeben. Auch Journalisten, insbesondere die freien, müssen Miete zahlen …

Michael Schmidt

ist Jahrgang 1954, arbeitete nach seinem Studium von 1978 bis zum Ende des DDR-Fernsehens in Berlin-Adlershof (zuletzt »Aktuelle Kamera II« und »Spätjournal«), danach, bis 2023, beim NDR Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin, zuletzt als Chef vom Dienst Fernsehen aktuell. Er gehört dem NDR-Rundfunkrat an und ist publizistisch tätig

Anmerkungen:

1 Lutz Riemann wurde als Schauspieler bekannt als Oberleutnant Lutz Zimmermann im »Polizeiruf 110« des DDR-Fernsehens

2 Contergan war ein rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere, das in der BRD zwischen 1957 und 1961 verkauft wurde. Das Medikament führte zu Totgeburten und schweren Fehlbildungen in bis zu 10.000 Fällen. Zunächst war behauptet worden, dies sei die Folge von Atombombentests. Dann jedoch musste das Mittel vom Markt genommen werden. Der DDR hatte man in den 1950er Jahren das Medikament ebenfalls angeboten. Doch nach Prüfung durch den Zentralen Gutachterausschuss für den Arzneimittelverkehr wurde das westdeutsche Präparat abgelehnt.

3 Michael Schmidt: »Cold Case auf der Ostsee. Der Fall ›Beluga‹«. Verlag am Park in der Edition Ost, Berlin 2024

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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