Mit vielen Identitäten
Von Florence HervéBekannt wurde Claude Cahun als Surrealistin, Avantgardistin und Pionierin der Selbstdarstellung. Doch eigentlich hieß sie Lucy Schwob und stammte aus dem jüdischen Großbürgertum in Nantes. Die Familie bewegte sich in der Intellektuellenszene – der Vater war Verleger, der Onkel ein bekannter Schriftsteller. Nach dem Tod der Mutter heiratete der Vater die verwitwete Mutter ihrer besten Freundin Suzanne Malherbe. Die Stiefschwester wurde zur Lebenspartnerin und Komplizin. Beide Mädchen rebellierten gegen Weiblichkeitsideale und erfanden sich neue Namen, welche die Ambiguität ihres Geschlechts zum Ausdruck brachten: Claude Cahun für Lucy Schwob, Marcel Moore für Suzanne Malherbe. »Männlich? Weiblich? Dies hängt von der Situation ab. Neutrum ist das Geschlecht, das zu mir immer passt«, erklärte Cahun.
Gemeinsam arbeiteten sie ab 1915 an Texten, Fotomontagen und Collagen. Nach den jeweiligen Studien in Nantes und an der Sorbonne wohnten sie ab 1922 in Montparnasse zusammen: Moore als Illustratorin und Bühnenbildnerin, Cahun als Fotografin, Schriftstellerin, Schauspielerin und Maskenbildnerin. In den dreißiger Jahren verkehrten sie in kommunistischen und surrealistischen Kreisen. Als die Situation in Frankreich bedrohlich wurde, zog das Paar 1937 nach Jersey, wo es einen luxuriösen Landsitz, den »Bauernhof ohne Namen«, in der idyllischen Bucht St. Brelade erwarb. Ein Ort glücklicher Kindheitsferien.
Mit der Besetzung der Kanalinseln durch die Nazis ab 1940 lebten die »French Ladies« zurückgezogen. Die Besetzung war unter anderem verbunden mit der Ausbeutung von Zwangsarbeitern im KZ-Alderney – einem Außenlager des KZ-Neuengamme auf der Nachbarinsel. Das akzeptierten Cahun und Moore nicht. So wurden sie aktiv gegen die Nazis. Im Widerstand sah die »surrealistische Aktivistin« Cahun »die logische Konsequenz« ihrer Aktivität als Schriftstellerin während der Volksfront.
In mühevoller und phantasievoller Kleinarbeit beschrifteten und bemalten sie Zettel, die sie, verkleidet als alte Frauen in Schwarz, in Cafés und auf Autos verteilten oder in Zeitungen versteckten, unterschrieben vom »Soldat ohne Namen«. Sie riefen die Soldaten zur Sabotage und zur Desertion auf. Diese subversive psychologische Aktion der Gegenpropaganda sollte die Moral im Militär untergraben. So hieß es: »Wer hat das Recht, ein Volk zu opfern, um die Regierung zu retten?« Oder: »Je länger der Krieg – desto schlimmer die Leiden unserer Frauen und Kinder.«
Erst nach vier Jahren kamen die Nazis den älteren Damen auf die Schliche, die wahrscheinlich verraten wurden – sie hatten etwa 350 Zettel von 6.000 gesammelt. Am Abend des 25. Juli 1944 tauchten fünf Gestapo-Agenten im »Bauernhof ohne Namen« auf. In Cahuns Zimmer fanden sie ein verbotenes Radio sowie eine Tasche mit einem Heft, in dem Aktionen und Texte notiert waren. Auf dem Schminktisch lag die Schreibmaschine. Auf dem Weg zum Gefängnis schluckte das Paar Phenobarbitaltabletten. Nach Cahuns Devise: »Tod oder Freiheit«. Der Suizid misslang. Im Militärgefängnis saßen sie in der Isolation, wurden nach vier Monaten Untersuchung am 16. November 1944 zum Tode verurteilt. Unter anderem durch Intervention des französischen Konsuls erfolgte die Begnadigung im Februar 1945. Am 8. Mai wurden sie als letzte aus dem Gefängnis entlassen.
Cahuns erstes fotografisches Selbstportrait nach der Befreiung zeigt sie mit einem Nazimilitärabzeichen, »diesem verdammten Vogel« (d. Adler), zwischen den Zähnen. Das Landhaus des Paars war inzwischen geplündert worden, Dokumente und Fotos zerstört. Cahun wollte nach Paris zurückkehren. Sie starb am 8. Dezember 1954 in St. Helier, krank, erschöpft vom Leben im Untergrund, von Gefangenschaft und Krieg. Moore beging 1972 Suizid. Auf Claude Cahuns Grab steht ihr selbstgewählter Spruch: »Und ich sah neue Himmel und eine neue Erde.«
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