Schwarzer und grüner Winkel
Von Sabine LuekenLange hat es gedauert, bis diese Ausstellung eröffnet werden konnte, seit Jahrzehnten ist sie überfällig. In der sogenannten »Berliner Erinnerungslandschaft« kamen diejenigen, um die es hier geht, bisher nicht vor. Es waren Menschen, die eine nonkonforme Lebensweise pflegten, arm waren oder bereits Haftstrafen verbüßt hatten. Die Nazis zählten sie nicht zur »Volksgemeinschaft« und verschleppten sie deshalb in Konzentrationslager, mindestens 80.000. Erst im Jahr 2020, als der Deutsche Bundestag feststellte, »niemand (sei) zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert …« gewesen, wurden sie als Nazi-Opfer anerkannt. Wie viele von ihnen ermordet wurden, in KZ oder in Heimen, Arbeitserziehungslagern und Kliniken, ist nicht bekannt.
Liddy Bacroff kam in den 1920er Jahren aus der Provinz nach Hamburg. Sie wollte die Chance nutzen, sich zu entfalten, besuchte in Frauenkleidung Bars und Cafés. Regelmäßig wurde sie von der Polizei aufgegriffen, schließlich wegen Homosexualität und Prostitution verhaftet. 1938 ordnete das Hamburger Landgericht eine dreijährige Zuchthausstrafe und dauerhafte »Sicherungsverwahrung« an. Im November 1942 wurde Liddy Bacroff in das KZ Mauthausen-Gusen transportiert, wo sie ermordet wurde. Die SS vermerkte als Todesdatum den 6. Januar 1943.
ErzwungeneTrennung
Sibilla Rombach, genannt Bella, brach aus der kleinbürgerlichen Enge ihrer katholischen Familie aus. Die junge Frau fuhr regelmäßig in die nächstgelegene Stadt und suchte neue Bekanntschaften – zum Missfallen ihrer Eltern. Bella stahl Geld und Kleidung, um über die Runden zu kommen, kam ins Gefängnis, anschließend in ein Erziehungsheim. Verantwortlich für die Heime in Rheinland war zu diesem Zeitpunkt Martha Beuermann, die nach dem Krieg ihre Karriere als hohe Beamtin fortsetzte. Nachdem die Eltern Bella angezeigt hatten, weil sie häufig ihren Arbeitsplatz verließ, brachte man sie zwecks »Vorbeugungshaft« ins KZ Ravensbrück, angeordnet vom Kripobeamten Willy Gay, der 1952 ins Innenministerium Nordrhein-Westfalens aufstieg. Bellas Eltern erfuhren erst 1948, dass ihre Tochter im März 1945 im KZ Bergen-Belsen gestorben war.
Die Romni Hella Wernicke verliebte sich in Heinz Stevens. Das Paar betrieb einen Handel mit Textilprodukten. Bereits 1932 wurde Hella von der Kripo in Köln erkennungsdienstlich behandelt. Im Mai 1941 erzwang die Kripo die Trennung der beiden, denn Stevens war kein Rom. Sie kamen wieder zusammen, reisten 1942 nach Wien, wo man sie verhaftete. Hella wurde als »Asoziale« ins KZ Ravensbrück, später nach Mauthausen verschleppt, Heinz Stevens als »Asozialer« ins KZ Dachau. Beide überlebten und konnten nach 1945 endlich heiraten.
Haft, Sterilisation, KZ
Im Zentrum der von der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas konzipierten Ausstellung stehen 21 Lebensgeschichten von Menschen, denen die Nazis das Lebensrecht absprachen. Die Definitionsmacht darüber lag bei den Behörden. Kripo, Gestapo, Wohlfahrts-, Fürsorge-, Jugend- und Gesundheitsämter, Arbeitsämter, Gerichte und Staatsanwaltschaften, Medizin und Psychiatrie, sie alle wirkten an der Durchsetzung der geforderten Normen mit, setzten mit codierten Standardformulierungen Haft, Zwangssterilisation und KZ-Einweisung durch.
Das galt auch für Österreich und ab 1939 für die besetzten Länder. Trotz schwieriger Quellenlage stellt die Ausstellung auch Verfolgte aus der Tschechoslowakei, Estland, den Niederlanden und Dänemark vor. In Polen verhängten die Deutschen drakonische Strafen mittels der »Polenstrafrechtsverordnung«, die nicht erwähnt wird. Die vierzehnjährige Augustyna Borowiec wurde wegen verbotenem Tauschhandel ins KZ Auschwitz, dann ins Jugend-KZ Litzmannstadt verschleppt. In Frankreich räumten und zerstörten die Deutschen das gesamte Marseiller Hafenviertel als angeblichen »Saustall Frankreichs«.
Keine Entschädigung
Ernst Nonnenmacher, der in Flossenbürg und Sachsenhausen inhaftiert war, berichtete 1980 über die »Klassengesellschaft des Lagers«, in der die Winkelfarbe das Ansehen bestimmte. Die »Asozialen« mit dem schwarzen Winkel befanden sich in der Lagerhierarchie ganz unten. Die Ausstellung widerspricht dem Vorurteil, die »Berufsverbrecher« mit dem grünen Winkel seien die »übelsten Elemente« (Eugen Kogon, 1946) gewesen. Die SS wählte aus allen Gefangenengruppen Vorarbeiter und Kapos aus. Johann Kammerer wurde im KZ Gusen I zum gefürchteten, mörderischen Kapo, während der »Berufsverbrecher« Carl Schrade seine Handlungsspielräume nutzte, um Mithäftlingen zu helfen.
Entschädigung erhielt keiner der Überlebenden oder der Nachkommen der Ermordeten. Sie wurden nach 1945 weiter ausgegrenzt, auch von ehemaligen Mithäftlingen. Der Werbezeichner Georg Tauber, der das KZ Dachau überlebt hatte, und seiner Enttäuschung darüber in dem Aquarell »Die Last« (1946) Ausdruck gegeben hatte, gründete deshalb 1946 einen eigenen Verein »Die Vergessenen«, der von der amerikanischen Militärregierung verboten wurde. Erst seit den 1980er Jahren begannen einzelne Angehörige und Initiativen, sich mit den Lebensgeschichten der »Verleugneten« auseinanderzusetzen.
Die Ausstellung ist als Wanderausstellung konzipiert und soll im Laufe der Jahre an wechselnden Standorten durch lokale Inhalte ergänzt werden. Sehr versteckt seitlich des Holocaust-Denkmals gelegen, wirkt sie in der Tat momentan eher unfertig. Ein Bezug zu heute wird am Ende vermittels einer unauffälligen Medienstation hergestellt. Sie belegt das Zitat von Anne Allex vom »AK Marginalisierte gestern und heute« (2015): »Die Stigmata ›asozial‹ und ›kriminell‹ wirken aus dieser Zeit so stark, dass sich noch heute kaum Menschen damit auseinandersetzen wollen, weil sie tief von deren Richtigkeit überzeugt sind.«
»Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933–1945–heute«, B. Place, Cora-Berliner-Str. 2, 10117 Berlin, bis 31. Januar 2025
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