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Aus: Ausgabe vom 09.12.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Ideologieproduktion

Er konnte nicht anders

Stiefellecken als Leitmotiv: Ein Buch über den argentinischen Präsidenten Javier Milei und dessen »Ära« ist ein Fiasko
Von Frederic Schnatterer
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Gesichter der Klassenherrschaft: Der argentinische Präsident Javier Milei in der New Yorker Börse (23.9.2024)

Es gibt Bücher, deren Lektüre sich äußerst zäh gestaltet. Und es gibt Bücher, die schon nach wenigen Seiten zu einer fast physischen Qual für den Leser werden. »Die Ära Milei: Argentiniens neuer Weg« von Philipp Bagus gehört zur zweiten Kategorie. Das liegt einerseits an der an Dreistigkeit grenzenden Oberflächlichkeit, mit der der Autor den argentinischen Präsidenten mehr zu ver- als zu erklären versucht. Und andererseits sind Stil und Sprache mindestens ebenso plump wie der Inhalt oberflächlich. Mit der Intelligenz seiner Leserinnen und Leser, das demonstriert Bagus durch das ganze Buch hindurch, rechnet er nicht wirklich.

Dabei verspricht der Klappentext des Buches »ausführliche wie kompetente Antworten« auf Fragen, die durchaus ihre Berechtigung haben. Zum Beispiel: Wie konnte so jemand wie Javier Milei überhaupt Staatspräsident werden? Oder: Wer ist dieser Mann, und was treibt ihn an? Heute, ein Jahr nach Mileis Amtsantritt am 10. Dezember 2023, nachdem er die zweite Runde der Präsidentenwahl deutlich mit 55,65 Prozent der Stimmen für sich entschieden hatte, wäre es wahrlich an der Zeit, sich solchen Fragen auf ernsthafte Weise zu stellen.

Indes: Darum geht es Bagus – laut Verlag ein »ausgewiesener Wirtschaftsfachmann«, versehen mit einem Professorentitel und an der Universität »Rey Juan Carlos« (URJC) in Madrid lehrend – zu keinem Zeitpunkt. Statt sich kritisch oder wenigstens sachlich mit der Figur Milei und mit dessen wirtschaftspolitischen Maßnahmen auseinanderzusetzen, wird der Marktradikale als Retter Argentiniens gezeichnet – vor der hohen Inflation, vor der riesigen Staatsverschuldung, vor der Sackgasse, in der sich die argentinische Wirtschaft ebenso wie das politische System befanden. Für die Grundsanierung des Landes sei Milei der perfekte Mann gewesen, heißt es. Oder in den Worten von Bagus: »Er tat es, weil er nicht anders konnte.«

Um darzulegen, warum das so gewesen sein soll, beginnt der Autor mit einem kurzen Abriss der Biographie des heutigen Präsidenten, der in Gänze dessen eigener bemühter Mythenbildung folgt und problematische Episoden auslässt. Demnach ist Milei ein einfacher, aber überaus intelligenter und arbeitsamer Mensch, der sich anhand der Lektüre der »Klassiker« der sogenannten österreichischen Schule zu dem Ökonomen entwickelt, der er heute anscheinend sei. Ein »Quereinsteiger«, der »aus dem Nichts« kam, der »nicht aufgeben kann. Die Leute bauen auf ihn.« Da zieht es ihn natürlich in die Öffentlichkeit (»Lautstark und kompromisslos erhebt sich seine Stimme gegen den Sozialismus. Die Zeit ist reif«) und in die Politik (»Es ist ein epischer Kampf David gegen Goliath – Milei gegen den Staat«). Schließlich gelingt es Milei, Präsident zu werden, denn »er ist bereit, sein Leben für die Freiheit zu geben«. Und: »Die Leute sind aufgewacht und entwickeln Begeisterung für die liberalen Ideen. Sie glauben wieder an die Freiheit.« In dem Stil geht es munter weiter: Stiefellecken als Leitmotiv.

Ein interessantes Dokument ist das Buch aber insofern, als es einen Einblick in die intellektuelle Armut des »libertären« Denkens gibt. So wenn Bagus vorgibt, die Marxsche Ausbeutungstheorie zu widerlegen, die er als »größten intellektuellen Betrug der Menschheitsgeschichte« bezeichnet, um dieser dann die »wissenschaftlich korrekte Ausbeutungstheorie: die ›österreichisch‹-libertäre« entgegenzustellen, laut der eine »Kaste« die »normale Bevölkerung« ausbeutet. Oder wenn anhand von Mileis Vorträgen ein »Panoramablick« auf die österreichische Schule der Nationalökonomie eröffnet werden soll, der jedoch nur aus einer Aneinanderreihung abstrakter, ahistorischer und ideologischer Behauptungen anhand von Schlagworten wie dem »Konzept der Freiheit«, der Monopolbildung, dem »unternehmerischen Akt« oder »Gewinn und Verlust« besteht.

Dem Leser drängt sich irgendwann der Eindruck auf, dass Bagus nicht die geringste Ahnung von der sozialen Realität in Argentinien hat. Ein ganzes Kapitel ist einem vermeintlichen argentinischen Wirtschaftswunder gewidmet. Der Versuch, diese Diagnose empirisch zu belegen, wird gar nicht erst unternommen. Auch Zahlen, die die Resultate der Schocktherapie Mileis illustrieren, ignoriert Bagus zielsicher. Wohl aus gutem Grund, würden diese doch die enormen sozialen Kosten aufzeigen, die der so hochgelobte Kurs mit sich bringt. Mehr als die Hälfte der 46 Millionen Argentinierinnen und Argentinier lebt heute unterhalb der Armutsgrenze, fast ein Fünftel sogar in extremer Armut. Hinzu kommen eine heftige Rezession, Deindustrialisierung, Informalisierung des Arbeitsmarktes und eine brutale Beschränkung bürgerlicher, gewerkschaftlicher und reproduktiver Rechte.

Dass sich im gesamten Buch außer der von Milei keine argentinische Stimme findet, lässt nur die Schlussfolgerung zu, dass dem Autor das Land und dessen Bewohner schlicht egal sind. Bagus geht es darum, den vom argentinischen Präsidenten verkörperten Turbokapitalismus zu bewerben und auch hierzulande populärer zu machen – deutlich wird das im Kapitel »Was wir von Milei lernen können« sowie im Epilog »Ist das Modell Argentinien auf Deutschland und Europa übertragbar?«, den der marktradikale Rechtsaußen Markus Krall verfasst hat.

Unter dem Strich handelt es sich bei »Die Ära Milei« um ein vulgäres Pamphlet, mit dem für den Kampf gegen »den Sozialismus« und letztlich gegen jedwede Einschränkung für das Kapital getrommelt werden soll. Die Veröffentlichung eines solchen Buches zeigt, dass neoliberale und ultrarechte Netzwerke sich eine »argentinische Lösung« auch für Deutschland wünschen. In Zeiten der sich vertiefenden Krisen wird dafür verstärkt die libertäre Ideologie à la Milei popularisiert.

Philipp Bagus: Die Ära Milei. Argentiniens neuer Weg. Langen Müller, München 2024, 264 Seiten, 22 Euro

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