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Aus: Ausgabe vom 12.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

Zu »Befreiern« mutiert

Syrien: Westen übernimmt HTS-Propaganda der Mäßigung. Realität in dschihadistisch kontrolliertem Idlib sieht anders aus
Von Wiebke Diehl
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Gedrillt wie reguläres Militär: Kämpfer des Al-Qaida-Ablegers HTS beim Exerzieren in Idlib (16.8.2023)

Während sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Montag »bereit« erklärten, mit »den neuen Machthabern« in Syrien »zusammenzuarbeiten«, und sich der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, gar »zuversichtlich« gab, weil die führende Miliz Haiat Tahrir Al-Sham (HTS) und andere bewaffnete Gruppen »positive Botschaften« an das syrische Volk gerichtet hätten, gingen Washington und London noch einen Schritt weiter: Dort will man prüfen, die HTS, auf deren Chef die USA noch 2017 ein Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt haben, von der Terrorliste zu nehmen.

Von der durch Regierungssprecher Steffen Hebestreit postulierten »Basis grundlegender Menschenrechte und dem Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten« kann in bezug auf die dschihadistischen, größtenteils aus ausländischen Kämpfern bestehenden bewaffneten Gruppen in Syrien keine Rede sein. Das gilt, obwohl sich HTS-Chef Abu Mohammed Al-Dscholani, der einst für den IS-Vorläufer »Islamischer Staat im Irak« kämpfte, jetzt mit seinem zivilen Namen Ahmed Al-Scharaa ansprechen lässt und seit seinem »Bruch« mit Al-Qaida im Jahr 2016 versucht, sich und seine Miliz als gemäßigt darzustellen.

Dutzende standrechtliche Hinrichtungen an Unbewaffneten haben die HTS, die »Syrische Nationalarmee« (SNA) und der IS seit dem Sturz von Präsident Baschir Al-Assad an christlichen, kurdischen, alawitischen und anderen Minderheiten angehörenden Zivilisten sowie an syrischen Soldaten durchgeführt. Getötet wurde unter anderem Scheich Taufik Al-Buti, Sohn des 2013 von Mitgliedern des HTS-Vorläufers Nusra-Front ermordeten sunnitischen Gelehrten und Gegner salafistischer Interpretationen des Islam, Scheich Mohammed Saeed Ramadan Al-Buti. Ein Dschihadist wird eben nicht zum Freiheitskämpfer, nur weil er seine Kampfuniform gegen einen Anzug tauscht.

Das Register des Grauens im seit Jahren von HTS-Kämpfern unter Al-Dscholani dominierten Idlib ist lang: Frauen wird das Wahlrecht vorenthalten, das Haus dürfen sie ohne männliche Begleitung und Verschleierung nicht verlassen. Christen werden mindere Rechte zugestanden, Alawiten und Drusen gelten als vom Islam Abgefallene, werden zwangskonvertiert, enteignet und vertrieben. Andersdenkende, politische Aktivisten und Journalisten werden mit brutalsten Methoden gefoltert oder ermordet. In Gefängnissen werden Todesurteile ohne Gerichtsverfahren vollstreckt. HTS behindert zudem humanitäre Hilfe in den von ihr kontrollierten Gebieten, erhebt »Steuern« auf diese und verteilt sie selektiv an ihre Günstlinge. Der HTS-Vorläufer Nusra-Front soll zudem spätestens 2013 mit Hilfe der Türkei und Saudi-Arabiens in den Besitz von Rohmaterial für die Produktion chemischer Kampfstoffe und dem entsprechenden technischen Know-how gelangt sein. Wie andere dschihadistische Gruppen in Syrien, denen ähnliche Verbrechen zur Last gelegt werden, setzt die HTS laut US-Außenministerium und Vereinten Nationen Kinder als menschliche Schutzschilde, Suizidattentäter und Soldaten ein.

Am Dienstag kündigte HTS-Chef Al-Dscholani an, man werde »nicht zögern, die Kriminellen, Mörder, Sicherheits- und Armeeoffiziere zur Rechenschaft zu ziehen, die an der Folter des syrischen Volks beteiligt waren«. Man werde »Kriegsverbrecher verfolgen und Länder, in die sie geflohen sind, um deren Überstellung bitten«. Es fragt sich, wer die Dschihadisten für ihre seit fast 15 Jahren, gegenwärtig und zukünftig begangenen Verbrechen zur Rechenschaft ziehen wird.

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  • Leserbrief von Wilfried Schubert aus Güstrow (16. Dezember 2024 um 11:31 Uhr)
    Am Wochenende gratulierten führende deutsche Politiker den Syriern zu ihrer »neuen Freiheit«. Wenig später herrschte großes Schweigen, als Israel ohne Provokation die gesamte syrische Verteidigungsfähigkeit zerbombte und syrische Gebiete besetzte. Israel gehört neben der Türkei und den USA zu den Siegern der gegenwärtigen Situation in Syrien. Oberflächlich gesehen nutzt Israel die Gunst der Stunde, Syriens Armee zu zerstören und Territorium zu besetzen. Der Einmarsch der Rebellen in Damaskus hat Präsident Assad zur Flucht gezwungen. Mehr als sechs Millionen Syrier leben als Flüchtlinge im Ausland, die meisten direkt in den Nachbarländern. Mehr als drei Millionen in der Türkei. Eine neue Migrationswelle droht das Land vor eine neue Zerreißprobe zu stellen und die Demographie ganzer Landesteile zu verändern. 150.000 sind erneut auf der Flucht. Die ersten Flüchtlinge waren Kurden. Deutschland sollte mit dafür sorgen, das international der Schutz der Alawiten, Christen und Nichtgläubigen in Syrien vor islamistischer Gewalt dauerhaft gesichert wird. Syrien darf nicht wie Libyen oder Afghanistan im Chaos versinken.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Petra L. aus Thyrow (12. Dezember 2024 um 07:35 Uhr)
    »Standrechtliche Hinrichtungen«? Nach welchem Recht? Ich glaube, das richtige Wort wäre »Massaker« oder »Ermordung«.
    • Leserbrief von CMF aus Ehemalige Friedensstadt OS (13. Dezember 2024 um 18:46 Uhr)
      »Faustrecht« würde gut zutreffen auf das Recht, was beim »Befreiungskörper« (Hayat Tahrir asch-Scham), »Freien Männern Syriens« (Ahrar asch-Scham oder wie auch immer die Truppe sich dieser Tage nennt) und vielen anderen Waffenbruderschaften der Rebellen gilt. Das Wesen, was seitens dieser nun zur Schau gestellt wird, ist derweil nicht neu: Plünderungen, Vandalisierung, Bilderstürmerei und Grabschändung, mit all dem fielen diese »moderaten Rebell-« Nein, ich mache mir diese Perversion der Sprache durch Denkfabrikanten nicht zu eigen. Diese modernen Landsknechte setzen hier nur offen das um, wofür sie seit ihrer Gründung gestanden haben, und durch die stolze Schau, die sie mit der Aufzeichnung ihrer Taten im Siegesrausch veröffentlichen, strafen sie hiesige Journalistik und Expertentum Lügen, was die Fama von deren eiserner Disziplin und Selbstkontrolle angeht. Vor alldem wurde ausdrücklich gewarnt, als in der Leitpresse hier vom »Tag danach« geschwärmt wurde. Nun ist er da, Gratulation. Ich danke der Redaktion für die Berichte Frau Leukefelds aus dem Land, die sie veröffentlicht hat. Ich bete für die dort porträtierten Menschen, was anderes bleibt angesichts so dumpfer Verlautbarungen unserer Politklasse nicht übrig. Angesichts dieser vor der Welt vorgetragenen seelenlosen Grausamkeiten an der Wiege der Zivilisation möchte ich fast sagen, wir bewegen uns in die Bronzezeit zurück – allein die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Taufen wir die Epoche nach einem anderen Metall: Bleizeit. Bleivergiftung inklusive.

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