Abschieben oder ausbeuten
Von Philip TassevDie bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch der syrischen Regierung von Baschar Al-Assad begonnene Debatte um die Ausweisung von in der Bundesrepublik lebenden Syrern wird weitergeführt.
In der Diskussion sind zwei Pole zu beobachten. Da sind zum einen jene, die, wie die CSU-Politikerin Andrea Lindholz am Mittwoch, die sofortige Abschiebung von syrischen »Straftätern und Gefährdern« und denjenigen, die »sich nicht integriert haben, also zum Beispiel nach Jahren noch nicht arbeiten«, fordern und die anderen mit Geldprämien dazu bringen wollen, freiwillig zurückzukehren. Jens Spahn (CDU) hatte am Montag ein »Startgeld« von 1.000 Euro für Rückkehrwillige vorgeschlagen. Sein Parteikollege Thorsten Frei sagte am Mittwoch den Sendern RTL und N-TV: »Es gibt derzeit knapp 50.000 Asylverfahren, die offen sind bei Syrern. Die sollten nicht weiter bearbeitet werden.« Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte am Montag bereits einen Entscheidungsstopp für Asylanträge von Syrern verkündet. Frei forderte nun zusätzlich, auch den Familiennachzug einzustellen und den subsidiären Schutzstatus von Syrern zu überprüfen. Aktuell haben über 300.000 Syrer einen solchen Status. Diesen Menschen wurde bisher kein Asyl bewilligt, sie dürfen aber wegen einer zu gefährlichen Lage nicht in ihr Heimatland abgeschoben werden. Bei einer Einstufung von Syrien als »sicheres Herkunftsland« könnten viele diesen Status verlieren.
Auf der anderen Seite der Debatte stehen vor allem Sozialdemokraten, die sich um die möglichen Folgen einer massenhaften Ausreise von Syrern – ob freiwillig oder nicht – für den deutschen Arbeitsmarkt sorgen. SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser etwa sagte am Mittwoch, dass »ganze Bereiche im Gesundheitssektor wegfallen« würden, »wenn jetzt alle Syrer, die hier arbeiten, unser Land verlassen würden«. Es sei wichtig, »dass wir den Syrern, die hier sind, die einen Arbeitsplatz haben, die sich integriert haben, die frei von Straftaten sind, wo die Kinder in die Schule gehen, dass wir denen auch das Angebot unterbreiten, hierzubleiben und für unsere Wirtschaft da zu sein«. Auch Niedersachsens sozialdemokratischer Ministerpräsident Stephan Weil äußerte sich gegenüber dpa dementsprechend: »Viele Geflüchtete sind auch gut integriert und haben Arbeitsplätze, die wir sonst gar nicht besetzen könnten. Man wird also genau hinschauen müssen.«
Der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, SPD-Mitglied Frank Werneke, sieht in Rückführungsplänen einen Verstoß »gegen die Interessen der Menschen und übrigens auch gegen die Interessen der Arbeitswelt, zumindest in Teilen in Deutschland«. Viele Syrer seien »hier auf dem Arbeitsmarkt integriert und etabliert und auch wichtig für uns«. Sie arbeiteten etwa im Versandhandel, im Bereich der Zustellung oder in der Pflege.
In einem von der italienischen Zeitung Corriere della Sera am Mittwoch veröffentlichten Interview rief der von den nun in Damaskus herrschenden Dschihadisten eingesetzte neue »Regierungschef«, Mohammed Al-Baschir, alle im Ausland lebenden Syrer dazu auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer bezweifelt allerdings, dass es viele freiwillige Rückkehrer geben wird, wie er der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte. Er verwies dabei auf die Erfahrungen aus dem Krieg gegen Jugoslawien: »Bis 1999 kehrten von den 350.000 Schutzsuchenden lediglich 17.000 an ihre ursprünglichen Wohnorte zurück.«
Derweil wittert man in Teilen der deutschen Industrie bereits ein gutes Geschäft mit dem Wiederaufbau der durch westliche Sanktionen ruinierten syrischen Wirtschaft. »Potenzial gibt es durchaus«, so der Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Volker Treier, am Mittwoch zu Reuters. Die syrische Wirtschaft sei vor der Verhängung der ersten EU-Sanktionen jährlich zwischen drei und fünf Prozent gewachsen. Die EU sei noch 2011 mit rund sechs Milliarden Euro Gesamtvolumen wichtigster Handelspartner Syriens gewesen.
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