Verkehrte Welten
Von André WeikardMensch, die Pandemie war vielleicht ungerecht. Wer keine Masken hatte, keinen Impfstoff, keinen noblen Homeoffice-Arbeitsplatz, sondern vielleicht in der Fabrik malochen musste, war gekniffen. Und dann noch die Altersdiskriminierung. Nee, Covid hatte keine Moral. Wie aber, wenn das mal anders wäre? Wenn ein Virus mal die Privilegierten erwischte, die Mächtigen, die Reichen? Gleich zwei aktuelle Spielfilme haben dieses Gedankenspiel durchdekliniert. In Irene von Albertis »Die geschützten Männer« rafft ein Virus ausschließlich Menschen mit Y-Chromosom im Genom dahin. Der spanische Filmemacher Galder Gaztelu-Urrutia nimmt in »Rich Flu« die Reichen aufs Korn. Herausgekommen sind zwei völlig unterschiedliche Filme. Der eine anarchisches Arthouse-Kino, der andere ein moralines B-Movie. Spaß machen sie aber beide.
Gerötete Augen, wuchernder Haarwuchs und groteske Sexgier sind in von Albertis Virusvariante die äußerlichen Anzeichen einer Männergrippe, die das Testosteron in die Höhe und die Männlichkeit somit auf die Spitze treibt – ehe der Tod mit erigiertem Penis eintritt.
Als Folge werden Männer unter Quarantäne gestellt. Eine radikalfeministische Splittergruppe putscht sich an die Macht. Der stehen nun zwei Mittel zur Wahl, um die Zukunft der Menschheit zu retten. Die Entwicklung eines Impfstoffs. Oder die Massenkastration. Und die neuen Machthaberinnen können sich nicht recht einigen, welche Methode anzuwenden sei …
Im totalitären Matriarchat kommen berittene Amazonen in Ledertops zum Einsatz, die über Ausgangssperren für Kerle wachen. Widerständige Männer bilden Milizen in den Wäldern unter dem Slogan »Keiner befiehlt uns, die Hände zu waschen«. Eilig ausgebildete Polizistinnen absolvieren ihr Training mit gezielten Schüssen auf den Schritt. Überdrehte Blödeleien, gewiss. Aber auch beredte Anekdoten. Etwa, als ein Mann, der sich über sexuelle Belästigungen beklagt, belehrt wird, dass er zu enge Hosen trage. Selbst schuld. Oder neudeutsch: Victim Blaming. Oder als eine der neuen Machthaberinnen, die gerne im Stripklub Zigarre schmaucht, sich auf einem Eisbärfell räkelt und sexuelle Gefälligkeiten von ihrem Untergebenen einfordert. Szenen, die gängige Genderklischees auf den Kopf stellen und auch mit dem begrenzten Budget des Films funktionieren.
Mehr Mittel hingegen standen für »Rich Flu« zur Verfügung. Wer Reiche krepieren lassen will, muss Reichtum zeigen. Dafür klinkt sich Gaztelu-Urrutia in das Leben der Filmproduzentin Laura (Mary Elizabeth Winstead) ein. Die jettet zwischen L. A., London und Barcelona, als die ersten Promis den Löffel abgeben. Papst tot, ein gewisser Jackerberg, dem ein soziales Netzwerk gehört haben soll, Schauspieler, die kaum 40 Jahre alt waren. In den Privatjets feixt man zuerst, so leicht sei man noch nie in der Forbes-500-Liste der reichsten Menschen nach oben gerutscht. Bald aber vergeht den Milliardären das Lachen. Reichtum wird zum Gesundheitsrisiko.
Lauras Boss hat die Zeichen der Zeit erkannt und sein Vermögen schnell unter die Leute gebracht. Dumm für Laura. Sie hat ein großzügiges Aktienpaket als Bonus akzeptiert, Hunderte Millionen Dollar, ihr Todesurteil, sollte das Virus sie erreichen. Also schnappt sie Mann, Mutter und Kind und macht sich auf zur Flucht übers Mittelmeer. Bloß weg von den potentiell ansteckenden Reichen, auf nach Afrika.
Auch »Rich Flu« verkehrt Klischees. Europäische Flüchtlinge schlagen sich nach Lampedusa durch, Weiße werden bei Polizeikontrollen bevorzugt aus dem Verkehr gezogen. Die Reichen jagen ihre Nobelkarossen selbst in die Luft, um ihre Haut zu retten. Yachten und Villen gleich mit. Auch hier hat die rätselhafte Krankheit ein rätselhaftes Symptom: strahlend weiße Zähne künden von Ansteckung und baldigem Tod.
Wo die deutsche Feminismusgroteske ihr Thema aber selbst kaum ernst nimmt und mit schrillen Albernheiten den mauen Plot überzeichnet, wird »Rich Flu« im Verlauf der Handlung immer verbissener und steifer. Was eine beißende Satire hätte sein können, wird zum ausgewachsenen Sozialdrama. Die Erzählung wendet sich mehr und mehr ab von der Reichenseuche und folgt nurmehr Lauras Flucht, Verwicklungen in Organhandel und eine egalitäre Kommune inklusive. Am Ende lässt Gaztelu-Urrutia seine Protagonistin ganz fallen und macht sie zur Bösewichtin. Eine effektvolle, aber nicht gerade nachvollziehbare Pointe.
Dennoch: Die beiden Seuchenfilme tun gut. In einer Zeit, in der das Kino sich weitgehend davon verabschiedet hat, zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu beziehen, flackern in ihnen die radikalen Dystopien des New Hollywood wieder auf. Die atomare Selbstvernichtung der Menschheit im »Planet der Affen« (Franklin J. Schaffner, 1968), die Folgen von Überbevölkerung und Umweltzerstörung in »Soylent Green« (Richard Fleischer, 1973) oder die pharmakologisch nivellierte Welt aus »THX 1138« (George Lucas, 1971) waren Alpträume, in denen ein junges US-Kino die Zukunft einer kapitalistischen Lebensweise halluzinierte. Solche Alpträume braucht es auch heute. Um Menschen wachzurütteln.
»Die geschützten Männer«, Regie: Irene von Alberti, D 2024, 104 Min., Kinostart: heute
»Rich Flu«, Regie: Galder Gaztelu-Urrutia, USA/Kolumbien/Spanien 2024, 116 Min., Kinostart: heute
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