Iran sucht Schuldige
Von Knut MellenthinSeit dem Zusammenbruch der syrischen Regierung am Wochenende steht im Iran die Abrechnung mit dem jahrzehntelangen Verbündeten im Vordergrund. Die enge Zusammenarbeit reichte bis in die 1980er Jahre zurück: Damals unterstützte Syrien als einziger arabischer Staat der Region den Iran im Abwehrkampf gegen den irakischen Angriffskrieg. Als die Regierung in Damaskus seit 2011 mit Gruppen und Organisationen bewaffneter Islamisten konfrontiert war, entsandte Iran im Lauf der folgenden Jahre Tausende Angehörige seiner Revolutionsgarden (IRGC) als frontnahe Berater nach Syrien und mobilisierte auch Milizkämpfer aus anderen Ländern dorthin.
Am Donnerstag verkündete der Chef der IRGC, Generalmajor Hossein Salami, bei einem Treffen mit Kommandeuren der Revolutionsgarden, er sei stolz mitzuteilen, »dass die letzten, die in Syrien die Widerstandslinie verließen, die IRGC-Kräfte waren, und dass die letzte Person, die das Schlachtfeld verließ, ein IRGC-Soldat war«.
Am Dienstag hatte Regierungssprecherin Fatemeh Mohadscherani mitgeteilt, dass in den vergangenen drei Tagen 4.000 Iraner aus Syrien zurückgekehrt seien, hauptsächlich mit Flugzeugen der in Teheran ansässigen privaten Luftlinie Mahan Air. Insgesamt hätten in den letzten Jahren rund 10.000 Iraner in Syrien gelebt.
Bei der Lagebesprechung mit IRGC-Kommandeuren am Donnerstag wandte sich Salami gegen Kritik am Abzug: »Einige erwarten von uns, dass wir hingehen und anstelle der syrischen Armee kämpfen.« Ob es etwa logisch sei, »in einem anderen Land zu kämpfen, während die Armee dieses Landes nur zuschaut?« Außerdem seien den IRGC alle Wege, nach Syrien zu kommen, verschlossen gewesen. Strategien müssten, den Umständen entsprechend, geändert werden.
Salami behauptete außerdem, die IRGC hätten frühzeitig Kenntnis von den Plänen der bewaffneten Islamisten in Syrien erlangt und die Regierung in Damaskus davor gewarnt, »aber weil der Wille, etwas zu ändern, zu kämpfen, und ein wirkliches Beharrungsvermögen nicht existierten«, sei es anders gekommen.
Diese Argumentation ist im Iran seit dem Wochenende häufig anzutreffen. Am Sonntag sprach Außenminister Abbas Araghchi in einem Fernsehinterview ebenfalls von einem Versagen der syrischen Streitkräfte, das genauso unerwartet gewesen sei wie das Tempo der Ereignisse. Außerdem habe die iranische Seite sich schon seit Jahren bei der syrischen Regierung vergeblich für einen »Dialog mit Fraktionen der Opposition« eingesetzt.
Am Mittwoch hielt Irans »Revolutionsführer« Ajatollah Ali Khamenei eine offenbar richtungsweisend gemeinte Ansprache vor, wie es offiziell heißt, »Tausenden Menschen aus unterschiedlichen Lebensgebieten«. Beim Umsturz habe auch ein Nachbarland Syriens – gemeint war offenbar die Türkei, die Khamenei nicht nannte – eine Rolle gespielt, aber »die hauptsächlichen Architekten, Verschwörer und Leute im Kontrollraum« befänden sich »in den USA und im zionistischen Regime«. Iran habe Hilfe nach Syrien liefern wollen, aber Israel habe alle Landwege unterbrochen und gemeinsam mit den USA auch den Luftweg unmöglich gemacht.
Khamenei sprach ebenfalls die »gezeigte Schwäche und das Fehlen von Entschlossenheit« der syrischen Streitkräfte an. Vor allem aber bestritt er, dass der Umsturz den Iran und die »Achse des Widerstands« schwäche. Er vertraue darauf, dass »die mutige Jugend« Syriens »sich erheben und mit Standhaftigkeit und sogar mit Opfern« die gegenwärtige Lage überwinden werde.
Aufmunterung, auch ohne realistische Anzeichen, scheint im Iran oberstes Gebot. Araghchi hatte sich noch am Sonnabend, wenige Stunden vor der Flucht des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad, mit seinen Kollegen aus Russland und der Türkei in Doha, der Hauptstadt Katars, getroffen. Das geschah im Rahmen der »Astana-Gespräche«, die seit 2017 insgesamt 21mal stattgefunden haben. Der Rat der drei Außenminister: Ein »politischer Dialog« zwischen Assad und »legitimen Oppositionskräften« müsse beginnen. Die Idee hat sich erledigt.
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