Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Sa. / So., 21. / 22. Dezember 2024, Nr. 298
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Aus: Ausgabe vom 13.12.2024, Seite 12 / Thema
Brasilien

Unlösbarer Widerspruch

Die Regierung Lula will internationales Kapital anlocken und zugleich die eigene Wirtschaft breiter aufstellen. Über die Bemühungen zur Entwicklung der brasilianischen Ökonomie
Von Theo Wentzke
12-13.jpg
60 Milliarden Dollar für den wirtschaftlichen Aufwuchs. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei einer Tagung zur Förderung der brasilianischen Industrie (Brasilia, 22.1.2024)

Wenn sich die internationale Investorenmafia in der Welt nach Anlagemöglichkeiten für ihr Geldkapital umschaut und die dabei behilflichen Berater einschlägige Tipps geben, taucht regelmäßig Brasilien als interessantes Ziel für Geldvermehrung auf. Ganz selbstverständlich messen sie das Land an ihren Maßstäben, zum Beispiel an den »Chancen und Risiken«, die es für ihre Spekulation zu bieten hat, und kommen zu einem zwiespältigen Urteil: Einerseits entdecken sie in der »neuntgrößten Volkswirtschaft der Welt« (Stand 2023, da hat es mit der Größe seines BIP gerade Kanada überholt) »viel Potential« in Gestalt eines »großen Binnenmarkts mit über 212 Millionen Einwohnern«, »einer diversifizierten Industrie«, eines immensen »Rohstoffreichtums« usw. Andererseits konstatieren sie eine »dramatische Verschuldungsdynamik des Staates«, fassen das Risiko eines Staatsbankrotts ins Auge, um sogleich wieder Entwarnung zu geben: »Die Landwirtschaft und der Bergbau gleichen mit ihren US-Dollar-Einnahmen aus den Exporten die Leistungsbilanz weitgehend aus und sorgen für volle Devisenkassen.«¹

Industrie fördern

Während die internationalen Finanzinvestoren die Rohstoff- und Agrarexporte als eindeutiges Plus Brasiliens gegenüber anderen »Schwellenländern« vermerken, stellt der so gelobte Status dessen politischen Herrn gar nicht einfach zufrieden. Vielmehr entdeckt der neue und alte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva darin zugleich einen zu überwindenden Mangel: »In den letzten Jahren hatte die brasilianische Industrie Mühe zu wachsen, und ihr Anteil am BIP sinkt ständig. Die Deindustrialisierung muss gestoppt werden, damit wir mehr hochwertige Arbeitsplätze schaffen können. Der Export von Rohstoffen ist wichtig, aber trotz des damit verbundenen wachsenden Technologiegehalts ist er anfälliger für internationale Preiszyklen.«²

Und um diesen Mangel zu beheben, hält Lula eine umfangreiche industrielle Aufrüstung des Standorts für unerlässlich. Die Regierung legte daher im Januar »einen Plan zur Förderung der Industrie für das kommende Jahrzehnt vor, der 60 Milliarden US-Dollar an zinsgünstigen Darlehen, Subventionen und Zuschüssen zur Wiederbelebung der Wirtschaft vorsieht«. (El País, 23.1.24) Mit ihrem Programm, die Abhängigkeit Brasiliens von den Rohstoff- und Agrarweltmärkten durch eine staatlich finanzierte Entwicklung hin zu einem Industriestandort mit »höchster Komplexität« zu überwinden, nimmt die brasilianische Regierung nicht nur Maß an dem Status der etablierten Wirtschaftsgroßmächte, sondern auch an deren Methoden. Ihren Anspruch auf national eigenständige Reichtumsquellen verfolgt sie so, dass sie mit ihrem Programm das Interesse nationaler und internationaler Kapitale zu wecken sucht, sich an ihrem Standortvorhaben zu bereichern. Auch bei der Beschaffung der dafür nötigen staatlichen Finanzmittel setzt sie auf das Geschäftsinteresse der Finanzwelt und bietet dieser ihren Kreditbedarf als Investitionsgelegenheit an.

Zu den ertragreichen und für das Finanzkapital attraktiven Unternehmen Brasiliens gehören zuvörderst dessen große Agrar- und Rohstoffunternehmen. Mit dem Export ihrer weltweit nachgefragten Agrargüter, Erze und Energieträger sind sie – über den nationalen Markt hinaus, der selbst einen wachsenden Bedarf danach hat – erfolgreich auf dem Weltmarkt präsent.³ Die Konkurrenzfähigkeit der großen Agrarunternehmen beruht auf besonders guten Produktionsbedingungen (Klima; fruchtbare Böden; riesige Nutzflächen mit viel Erweiterungspotential; geringe bis gar keine Pachtkosten für die Bodennutzung) und macht aus Brasilien den Weltmeister im Export von Soja, Zucker und Fleisch. Ihr Wachstum betreiben diese Betriebe durch Intensivierung per Dünge- und Pestizideinsatz sowie vor allem auch durch die ständige Ausweitung ihrer Fläche, indem sie abgebrannte bzw. gerodete Böden aufkaufen. Die großen Rohstoffunternehmen lassen zu geringen Lohn-, Umwelt- und Sicherheitskosten, begleitet von fortwährend neuen Explorationen, das aus der Erde holen, was die Natur dem Land beschert hat und der kapitalistische Weltmarkt an Grundstoffen nachfragt – Eisen, Gold, Kupfer, Nickel und nicht zuletzt Öl. Mit ihrer Profitabilität und der weltweiten Nachfrage nach ihren »Primärprodukten«, vor allem seitens der kapitalistischen Metropolen, sind die brasilianischen Agrar- und Rohstoffunternehmen ein bevorzugtes Objekt für internationale Kapitalanleger.

Als zweiten großen Aktivposten für die Spekulation der Finanzwelt auf brasilianisches Wachstum verfügt das Land über eine Industrie, die aus einigen nationalen Großunternehmen sowie vor allem aus zahlreichen mehr oder weniger großen Dependancen internationaler Industrieunternehmen besteht. Letztere erweitern ihre heimische Basis durch Kapitalexport nach Brasilien, nutzen die dortigen günstigen Produktionsbedingungen (Nähe zu Rohstoffen wie Eisen und Öl, vergleichsweise niedrige Lohnkosten, günstige Vorprodukte etc.) und produzieren vornehmlich für den südamerikanischen Markt, vor allem für den von Investoren regelmäßig lobend erwähnten »großen Binnenmarkt« Brasiliens. Die großen Industrieunternehmen bringen ein Umfeld von Zulieferern hervor, deren Produktion auf den Bedarf dieser Konzerne ausgerichtet ist und die häufig von ihnen selbst aufgebaut oder ins Land mitgebracht werden.

Bevorzugte Objekte für Engagements internationaler Investoren sind diese beiden Abteilungen der brasilianischen Ökonomie nicht nur deswegen, weil dort die höchsten Renditen sind, sondern weil die dortigen Überschüsse wesentlich in einer Währung erzielt werden, die internationale Zahlungs- und Geschäftsfähigkeit garantiert, nämlich ganz überwiegend in US-Dollar. Die Agrar- und Rohstoffexporteure versilbern ihre Waren auf dem Weltmarkt direkt in US-Dollar, und die erfolgreichen Industrieunternehmen beliefern teils ebenfalls den Weltmarkt, teils verdienen sie so viel nationales Geld, dass auch sie in US-Dollar kreditwürdig werden.

So scheidet das mit US-Dollar wirtschaftende Finanzkapital diese Sphäre, in der seine Investitionen lohnende Verwendung versprechen und getätigt werden, vom Rest des brasilianischen Kapitalismus, der für die Interessen und Maßstäbe der dollarbewehrten Bankenwelt unbeachtlich ist. Dieser Rest besteht insbesondere aus einer Unzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)⁴ in allen möglichen Abteilungen von Produktion, Handel und Dienstleistungen. Diese Unternehmen konkurrieren um den großen inneren Markt und dessen Massenkaufkraft. Dabei sind sie mehrheitlich der Konkurrenz mit auswärtigen Kapitalen, die mit ihren preiswerteren Produkten nach Brasilien drängen, nicht gewachsen und müssen vom Staat mit hohen Zöllen vor der auswärtigen Konkurrenz geschützt werden. Dadurch sollen auswärtige Unternehmen zugleich dazu genötigt werden, in Brasilien selbst produzieren zu lassen und so den Wirtschaftsstandort zu stärken.

Hohe Zinsen

Diesen großen und für das Land essentiellen Teil der brasilianischen Ökonomie nimmt das Finanzgewerbe in Gestalt einer anderen Abteilung seiner Geschäftstätigkeit in den Blick, die ihren Ausgangspunkt und ihr Geschäftsmittel im brasilianischen Real hat: Nationale Geschäftsbanken sind mit ihren Filialen flächendeckend präsent, greifen die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft ab und kassieren für ihre Dienstleistungen weltrekordverdächtig hohe Gebühren. Die eingesammelte Liquidität machen sie zur Grundlage ihrer Kreditvergabe in Landeswährung⁵ und sortieren dabei ebenfalls sehr konsequent ihre Kundschaft: Privatpersonen müssen hohe Zinsen zahlen und bekommen umgekehrt wenig Zinsen für Einlagen; die vielen kleinen und mittleren Unternehmen werden meist nur zu kurzen Laufzeiten und hohen Zinsen kreditiert, mit denen sich das nationale Bankgewerbe das bei dieser Klientel gegebene erhöhte Risiko der Kreditvergabe teuer vergüten lässt – sofern sie überhaupt einen Kredit bekommen. Der Zirkel von Konkurrenzfähigkeit und Kredit macht sich für diese Abteilung der brasilianischen Ökonomie negativ geltend: Ihr prekärer Status ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern zugleich Resultat ihrer Bewertung durch das Finanzkapital. Im Ergebnis leidet diese Abteilung der brasilianischen Ökonomie, deren großem Kreditbedarf ihre fragwürdige Kreditwürdigkeit gegenübersteht, dauerhaft unter einem handfesten Kreditmangel und dem »traditionell hohen Zinsniveau«, für das Brasilien berüchtigt ist.

Entscheidend für die Größe und Kapitalkraft der nationalen Banken sind deshalb auch weniger ihre Geschäfte mit dem Gros der Privatkunden und den konkurrenzschwachen Kleinunternehmen. Vielmehr betreiben sie alle einträglichen Finanzgeschäfte, die sich mit der nationalen Währung anstellen lassen. Ein wichtiger Bestandteil ihres Geschäfts besteht in der Kreditierung der großen, international konkurrenzfähigen Unternehmen, soweit die für ihr geschäftliches Treiben an dem Standort Bedarf an nationalem Geld haben; ferner in Dienstleistungen wie Vermögensverwaltung, Investitionsabwicklung, Aktien- und Wertpapierhandel, Kauf- und Verkauf von Unternehmen, Börsengänge etc.

Die Subsumtion der nationalen Wirtschaft unter die Maßstäbe nationaler wie internationaler Geldgeber hat für denjenigen »Sektor« der brasilianischen Ökonomie, in dem von kapitalistischem Wachstum überhaupt keine Rede sein kann, eine ganz eigene Bedeutung. In diesem »informellen Sektor« kämpfen sich – meist in den Armutsvierteln der Städte – mehr als fünfzig Prozent der Arbeitsbevölkerung⁶ an dem Widerspruch ab, dass sie wie alle dem Zwang zum Geldverdienen unterliegen, ohne dass ihnen der Standort zugleich ausreichend Gelegenheit bietet, sich in einem rechtlich geregelten Ausbeutungsverhältnis nützlich zu machen. Diese Hälfte der Bevölkerung schlägt sich legal, halblegal oder illegal mit allerlei Dienstleistungen für Unternehmen, für die Teile der Bevölkerung, die über ein geregeltes Einkommen verfügen, oder gleich für kriminelle Organisationen durch. Mit ihren trostlosen Lebensbedingungen sorgen sie für Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Mannschaften, die das Privileg genießen, Staat oder Kapital in einem »formellen Beschäftigungsverhältnis« dienen zu dürfen; als Käufer und Zulieferer tragen sie auf der untersten Ebene zum »großen Binnenmarkt« bei und bestreiten so auch einen relevanten Teil des staatlichen Steueraufkommens, bei dem immerhin circa 60 Prozent auf Verbrauchssteuern entfallen.⁷ Für das Finanzkapital sind ihre »Einkommen« als abzugreifende Liquidität interessant: Mit ihrer zunehmend mit Handyzahlungen abgewickelten Teilnahme am Geldverkehr verschaffen auch sie den nationalen Banken mit ihrer kleinen, aber in der Masse zu Buche schlagenden Zahlungsfähigkeit eine Basis für deren Finanzgeschäfte.

Mehr nationales Wachstum

Dass die von ihm frei gesetzten Geschäftsinteressen des internationalen Kapitals aus den »Potentialen«, die auch der brasilianische Staat – von seinem Standpunkt aus – im Auge hat, viel zu wenig machen, lässt er nicht als das letzte Wort über seinen Standort gelten. Er betreibt deshalb immer wieder unter der Parole »Industrialisierung!« umfangreiche Programme zur Standortentwicklung. Er finanziert riesige Infrastrukturprogramme, um die Bedingungen für eine ausgreifende kapitalistische Nutzung von Land und Volk zu schaffen. Zusätzlich subventioniert er Unternehmen in allen Größenordnungen mit Kreditprogrammen, Steuererleichterungen etc. Darüber hinaus spannt er seine staatlichen Unternehmen – an erster Stelle den Energiekonzern Petrobras – für sein Entwicklungsprogramm ein.

Eine besondere Aufgabe erwächst dem Staat aus der prekären Lage der vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), deren Leistungen für den Standort (reguläre Beschäftigungsverhältnisse, Kaufkraftstiftung, Belieferung anderer Unternehmen mit Produkten und Dienstleistungen etc.) für die Reproduktion seiner nationalen Ökonomie unverzichtbar sind. Auf deren Kreditnot bezieht er sich so, dass er in großem Stil diese ansonsten nicht überlebensfähigen Unternehmen mit Liquidität versorgt. Hierfür nutzt er erstens seine Entwicklungsbank BNDES (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social), soweit sich das zu subventionierende Geschäft unter die nationalen Entwicklungsziele subsumieren lässt; und zweitens eigens eingerichtete staatliche Geschäftsbanken. Diese konkurrieren mit den Privatbanken beim Einsammeln der gesellschaftlichen Zahlungsfähigkeit, verdienen wie diese am Kauf der Staatsschuldpapiere, haben aber als zentrale Aufgabe, die vielen KMU mit zinsgünstigerem Kredit zu versorgen und damit überhaupt erst geschäftsfähig zu machen bzw. zu halten. Dabei sollen die Kriterien wachstumsträchtigen Wirtschaftens nicht einfach entfallen – es sollen ja schließlich keine »Zombies« durchgefüttert, sondern Brasilien als Kapitalstandort vorangebracht werden. Diese widersprüchliche Aufgabenstellung führt zu einem dauernden Hin und Her von strengen Auflagen bezüglich Eigenkapital, Sicherheiten und Vorschriften für die Bedienung der Kredite etc. für die kleine und mittlere Kreditkundschaft der staatlichen Banken und deren gleichzeitiger Relativierung, um die politisch erwünschte Kreditierung dann doch nicht scheitern zu lassen. Im Ergebnis ergänzt, erweitert und modifiziert der brasilianische Staat den nationalen Kreditmarkt und tritt selbst als zentraler Kreditgeber der brasilianischen Ökonomie auf: Er übernimmt fast gänzlich die für das Stiften von nachhaltigem Wachstum entscheidende langfristige Kreditierung der im Land tätigen Unternehmen in nationaler Währung, die die geschäftlichen Kreditgeber als zu risikoreich resp. zu wenig lukrativ unterlassen.

Für dieses doppelte Programm – die Schaffung von materiellen Voraussetzungen für eine künftige stärkere Nutzung Brasiliens als Investitionsstandort und die Übernahme der Kreditierung für große Teile seiner Ökonomie – nutzt der brasilianische Staat sein Kommando über seine Gesellschaft und mobilisiert seine Finanzmacht. Schließlich gebietet er nicht nur als Fiskus über seine der Gesellschaft hoheitlich entzogenen Steuereinkünfte. Als diese Hoheit verfügt er auch über die Freiheit, sich seinerseits als Kreditnehmer zu betätigen, und sich die nötigen Geldmittel für seine Kreditstiftung durch die Ausgabe von Staatspapieren bei der Finanzwelt zu besorgen. Seine politische und ökonomische Macht setzt der brasilianische Staat quasi als politischer Generalspekulant ein, mit der Rechnung darauf, dass die staatlichen (Vor-)Leistungen durch einen damit stimulierten kapitalistischen Aufwuchs seines Standorts gerechtfertigt werden.

Im Resultat sorgt seine schuldenfinanzierte Kreditierung der Ökonomie auch durchaus für Wachstum: Investoren aus den kapitalistischen Zentren nutzen die staatlichen Subventionsangebote – soweit sie nach ihrer Rechnung darin lukrative Gelegenheiten für eine Erweiterung ihrer Geschäfte erblicken. In- und ausländische Unternehmen wie zum Beispiel mit Staatsaufträgen reich gewordene Baukonzerne profitieren direkt von dem finanziellen Aufwand, den der Staat mit seinen Aufträgen zum Ausbau der Infrastruktur betreibt. Allerdings ist erstens völlig offen, inwieweit die Spekulation des Staates aufgeht, mit seinen »Vorleistungen« verstärkt Kapital zu Investitionen in den Standort zu bewegen; und zweitens beruht das mit seinen Aufträgen und Mitteln unmittelbar produzierte Wachstum ganz auf der staatlichen Finanzierungsfreiheit, die er sich leistet. Unternehmen mögen davon profitieren, der Staat tut es unmittelbar nicht. Die vielen kleinen Unternehmen schließlich, die mit staatlichem Kredit erst zu ihrer jeweiligen Geschäftstätigkeit und zur Konkurrenz mit ihresgleichen befähigt werden, können so zwar ihren Beitrag zum Standort, nicht zuletzt in Gestalt von Arbeitsplätzen, leisten – aber das ändert wenig an ihrer mangelhaften kapitalistischen Produktivität, so dass im Ergebnis eine Masse im internationalen Maßstab weitgehend konkurrenzunfähiger Betriebe nur auf Staatskosten am Leben gehalten wird.

Inflationsprobleme

Was der Staat mit seinem spekulativen Finanzaufwand auf jeden Fall erreicht, ist der Effekt, dass die staatlich gestifteten Kreditmengen zwar für eine Ausweitung des in der Gesellschaft umlaufenden Geldes und eine Steigerung des nominellen Wachstums sorgen, dass aber im Verhältnis zur Kreditmasse insgesamt in der Nation kein ausreichendes kapitalistisches Wachstum zustande kommt, das den kreditmäßigen Aufwand, den Kapitalisten und Staat auf dem Standort und in diesem Geld treiben, rechtfertigt – ein Missverhältnis, das seinen Niederschlag darin findet, dass das nationale Geld an Kaufkraft verliert. Die allgemeine Steigerung der Preise, mit der die Geschäftswelt die gestiegene Zahlungsfähigkeit abgreift, dokumentiert den Verfall des nationalen Kreditgelds, das laufend weniger Zugriffsmacht auf produzierten Reichtum verkörpert – Resultat und Indikator der mangelnden kapitalistischen Wirksamkeit der Kreditmassen, die dieses Geld repräsentiert.

Das ist den politisch Verantwortlichen nur zu vertraut – in Gestalt der Gefahr einer »unverhältnismäßig« steigenden Inflationsrate, die die »Gewinne auffrisst«. Dieselbe Notenbank, die den staatlichen Auftrag verfolgt, mit ihrer »Refinanzierung« der Banken deren Kreditpapiere, die bei ihr eingereicht werden, in »Liquidität« zu verwandeln, die damit die Geldmaterie für die Ausweitung aller Kreditgeschäfte bereitstellt, hat deswegen immer auch den zweiten Auftrag, die Inflation »in Grenzen« zu halten, möglichst vorausschauend der »Inflationsgefahr« zu begegnen und den immer wieder zu konstatierenden Verfall des nationalen Kreditgelds zu bremsen. Dieser Gefahr begegnet sie mit dem Instrumentarium, das kapitalistischen Staaten eben geldpolitisch zur »Inflationsbekämpfung« zu Gebote steht. Sie modifiziert die Bedingungen und Kosten der Refinanzierung, setzt vorzugsweise die Leitzinsen hoch,⁹ die sie der Bankenwelt vorgibt, mit dem Ziel, das Kreditzeichen solide zu machen und für Solidität des in diesem Geld national umlaufenden Kredits zu sorgen.

Mit seiner Zinspolitik reagiert der Staat zudem darauf, dass der inflationäre Effekt der kreditfinanzierten Wirtschaftspolitik auch seine eigene Schuldenwirtschaft tangiert. Mit dem Angebot an die Banken, seinen Finanzbedarf als Investitionsgelegenheit wahrzunehmen, macht er den schließlich zum Gegenstand deren finanzkapitalistischer Kalkulation. Diesbezüglich bekommt er von den brasilianischen Banken den Bescheid, dass er zwar durchaus kreditwürdig ist: Dass er als der Herr über die nationale Ökonomie und ihr Geld sich die Liquidität verschaffen kann, um seine Schulden zu bedienen, steht für sie außer Frage. Außer Frage steht für sie andererseits aber auch, dass die Geldentwertung ein Risiko ihrer Kreditgeschäfte darstellt, das ihnen keineswegs aufgebürdet werden darf, sondern mit entsprechenden Zinsforderungen geschäftlich zu nutzen ist: Die brasilianischen Geschäftsbanken preisen die tatsächliche und die spekulativ vorweggenommene Inflationsrate in die Zinshöhe ein, zu der sie bereit sind, dem Staat seine Schuldtitel abzukaufen, und der zahlt ihnen qua Geldhoheit diesen Preis. So trägt er mit seiner eigenen Schuldenwirtschaft zu dem hohen nationalen Zinsniveau bei, das er zugleich als Bremse für das von ihm angestrebte Wachstum betrachtet und das er deshalb wiederum mit der Mobilisierung seines Kredits zu kompensieren und für die nationale Ökonomie tragbar zu machen sucht.

Politischer Grundsatzstreit

Die politisch Verantwortlichen im Lande stehen vor dem Widerspruch, für ein besseres Vorankommen der Nation einerseits ihre Standortpolitik an den Ansprüchen des großen nationalen und internationalen Kapitals ausrichten zu müssen, andererseits den Standort breiter aufstellen zu müssen, um mehr nationale Realakkumulation in Gang zu bringen. Diese widersprüchliche Aufgabenstellung ist Grundlage für einen dauernden Grundsatzstreit in der politischen Führung um die wirtschafts- und finanzpolitische Räson der Nation: Soll der Staat seine Kreditmacht nutzen, um mit Schulden den nationalen Standort zu entwickeln und so von der einseitigen Abhängigkeit von Rohstoffexporten und auswärtigen Finanzinvestoren loszukommen? Oder soll er sich umgekehrt kostspielige, aber wenig produktive Anstrengungen nationaler Standortentwicklung sparen, statt dessen mit Haushaltsdisziplin für ein stabiles Geld sorgen und vor allem die Devisen bringenden Abteilungen der Wirtschaft fördern, weil die schließlich die entscheidende Quelle der internationalen Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit des Staates sind?

Ersichtlich lebt dieser Streit, in dem jede Seite der anderen vorwirft, mit ihrem »Konzept« den ökonomischen Niedergang des Landes herbeizuführen, davon, dass die streitenden Parteien jeweils eine Seite des Widerspruchs, in dem sich der brasilianische Kapitalismus bewegt, zur Leitlinie der Politik machen. Wer sich in dieser Kontroverse mit seinen Argumenten jeweils durchsetzt, wird auch in Brasilien politisch durch Wahlen bzw. Parlamentsmehrheiten entschieden. Wann und warum die jeweiligen Argumente und Versprechungen für das eine oder das andere Programm Anklang finden, das hängt allerdings wesentlich ab vom Verlauf der Weltmarktkonjunkturen, über die Brasilien nicht Regie führt und die praktisch über die Mittel und Drangsale entscheiden, an denen sich Brasiliens politische Führung jeweils abarbeitet. Der Boom und die Krise, die das Land in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hat, sind Dokumente dieser Subsumtion des Schwellenlands Brasilien unter die Konjunkturen des Weltmarkts und des globalen Finanzkapitals als dessen entscheidendem ökonomischen Subjekt.

Anmerkungen:

1 Germany Trade and Invest, www.gtai.de, 6.7.2020

2 Erklärung von Präsident Lula und Vizepräsident Alckmin, O Estado de São Paulo, 25.5.2023

3 »Das Land ist der viertgrößte Lebensmittelexporteur der Welt – nach den USA, den Niederlanden und Deutschland –, mit Sojabohnen als größter Unterkategorie. Zugleich ist es nach Mexiko der zweitgrößte lateinamerikanische Exporteur von Erzen und Metallen (wichtigste Unterkategorie ist Eisenerz) und weltweit der fünftgrößte Lithium- und der fünftgrößte Kupferproduzent, was dem Land angesichts der Energiewende langfristig ebenfalls zugute kommen könnte. Zudem ist Brasilien seit 2017 ein Nettoexporteur von Kraftstoffen und nach Mexiko der zweitgrößte Ölexporteur in Lateinamerika.« (credendo.com, 31.5.2022)

4 Rund 8,9 Millionen Unternehmen im Land zählen zu den kleinen und mittleren Unternehmen (in Deutschland sind es 2,5 Millionen). Sie machen 99,6 Prozent aller brasilianischen Unternehmen aus und stiften circa die Hälfte aller »formellen« Arbeitsplätze.

5 Den brasilianischen Geschäftsbanken war es bis vor kurzem verboten, US-Dollar-Kredite zu vergeben und US-Dollar-Konten zu führen, außerdem waren dem Umtausch von Real in US-Dollar enge Grenzen gesetzt (Begrenzung der Menge, Bindung an bestimmte Zwecke wie Tourismusgeschäfte etc.). 2023 hat die Regierung die entsprechenden Beschränkungen per Gesetz gelockert und weitere Liberalisierungen in Aussicht gestellt.

6 Von den insgesamt 105 Millionen potentiell arbeitsfähigen Brasilianern sind rund 94 Millionen in Arbeit, davon 44,9 Millionen in regulären Beschäftigungsverhältnissen. Dem stehen 49,2 Millionen Beschäftigte im informellen Sektor gegenüber.

7 20 Prozent der Steuereinnahmen kommen aus der Einkommenssteuer; auf Immobilien- und Kapitaleinkommen werden vier Prozent Steuern erhoben.

8 Allein die staatliche Entwicklungsbank BNDES vergibt über 80 Prozent aller langfristigen Kredite in Brasilien; hinzu kommt die Kreditvergabe durch die staatlichen Geschäftsbanken, so dass insgesamt langfristiges Kapital in Brasilien fast ausschließlich durch staatliche Banken vergeben wird.

9 »Der Banco Central do Brasil (BCB) kämpft gegen eine zweistellige Inflationsrate. Ende März 2022 lag die Inflation bei elf Prozent und damit auf dem höchsten Stand seit 2003 (…). Infolgedessen hat der BCB auf seiner letzten Sitzung im Mai 2022 den Leitzins Selic erneut massiv auf 12,25 Prozent angehoben.« (Analyst Debuysscher, www.credendo.com, 31.5.2022)

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 24. September 2024 über den westlichen Wirtschaftskrieg gegen Russland: Enteignung für die Kriegskasse.

Mehr zum Thema Brasilien im jüngst erschienenen Heft 4-24 der Zeitschrift Gegenstandpunkt und auf der Webseite: gegenstandpunkt.com

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Bestehen auf ihrer Unabhängigkeit: Chinas Präsident Xi und sein ...
    20.11.2024

    Auf die brasilianische Art

    Lulas Nein zur »Neuen Seidenstraße« bedeutet keine Hinwendung zum Blockdenken des »Westens«
  • Kein ungewöhnliches Bild: Chinesische Arbeiter schaufeln Sojaboh...
    24.07.2024

    China zieht

    Größter Handelspartner Lateinamerikas: Auch rechte Politiker unter Zugzwang.
  • Wer sagt hier wem, wo es lang zu gehen hat? EU-Kommissionschefin...
    26.10.2023

    Geschwächte Verhandlungsmacht

    Angesichts der chinesischen und US-amerikanischen Konkurrenz in Lateinamerika gerät Brüssel unter Zugzwang. Zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen EU und Mercosur

Regio: