Der Heise Scheiß
Von Ludger van der HeydenMehr als 50.000 Artikel, einfach weg. Telepolis, das unter dem Dach des Heise-Verlags produzierte »Magazin der Netzkultur«, hat auf einen Schlag sämtliche vor 2021 auf seiner Website erschienenen Beiträge ins Offline verbannt. Die Begründung der Chefredaktion: Deren Qualität könne man »nicht pauschal garantieren«. Man habe einsehen müssen, »dass es keine realistische Möglichkeit gibt«, die enorme Menge an Material hinreichend zu prüfen. Das 1996 gegründete Medienprojekt rühmt sich damit, »blinde Flecken in der Berichterstattung« zu beleuchten. Und jetzt das: 25 Jahre Telepolis- und Zeitgeschichte – nur noch ein großer blinder Fleck.
Florian Rötzer ist entsetzt. »Diese riesige Löschaktion ist ein beispielloser Akt, mit dem ein wichtiges Stück des kulturellen Gedächtnisses ausradiert wird«, äußerte sich der Mitbegründer und langjährige Chefredakteur des Portals am Mittwoch gegenüber junge Welt. Fast noch ungeheuerlicher sei aber die Ankündigung, man werde die Inhalte sichten und selektieren oder sogar korrigieren. Unter dem Titel »Qualitätsoffensive« teilte die Leitung am Freitag der Vorwoche mit, Inhalte, »soweit sie noch einen Mehrwert bieten«, schnellstmöglich bewerten und überarbeiten zu wollen, um so »schrittweise die vielen Perlen aus dem Archiv wieder zugänglich« zu machen. Das Geschmeide wird aufpoliert, aber der Gesamtschatz bleibt versenkt. »Das hat eindeutig Züge von Geschichtsfälschung und ist das Übelste an der ganzen Sache«, befand Rötzer.
Dessen Nachfolge trat 2021 Harald Neuber an. Offenbar mit der Mission, mit allem, was vor ihm war, zu brechen, und sich den Diktaten von Zeitgeist, Mainstream und »Cancel Culture« zu beugen. »Früher sind im Stalinismus aus Fotografien Menschen verschwunden, jetzt verschwinden ganze Archive«, klagte Rötzer. In seiner Bekanntmachung verwies Neuber stolz auf das prächtige Abschneiden von Telepolis – »volle Punktzahl« – beim Rating durch Newsguard. Das Bewertungsportal, das auch den Spiegel als zu 100 Prozent vertrauenswürdig einstuft, wird von der PR- und Werbebranche gesponsert und muss sich aktuell vor dem US-Parlament wegen des Vorwurfs erklären, als »intransparenter Teil von Zensurkampagnen« zu agieren.
Schon im vergangenen Februar hatte Neuber mit der Maßnahme für Argwohn gesorgt, allen Veröffentlichungen vor seiner Zeit einen »Disclaimer«, also einen Warnhinweis voranzustellen, wonach diese »möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen« bei Heise und Telepolis genügten. Festgeschrieben stehen diese in einem Mitte 2023 formulierten »Leitbild« mit so schönen Vorsätzen wie »Transparenz«, »Glaubwürdigkeit« und »gewissenhafte Recherche«. Telepolis ist dazu übergegangen, sich die Redaktionsarbeit durch künstliche Intelligenz (KI) abnehmen zu lassen; Artikel werden in Teilen, mithin komplett vom Computer generiert. Vor einem Jahr übernahm der Verlag Anteile am Medienunternehmen Deep Content. Dessen IT-Lösungen würden »Kernbestandteil« der eigenen KI-Strategie, verbreitete die Heise Group vergangenen März. Man habe Lizenzen »für das ganze Haus erworben, mit denen die einzelnen Abteilungen ihre Arbeitsabläufe mit KI optimieren können«. Das liegt im Trend, im Journalismus gilt KI als der heiße Scheiß.
Wo alles neu ist, muss das Alte weichen. Auch gute Traditionen. Früher konnte man zu jedem Beitrag Kommentare hinterlassen. Inzwischen gebe es Beschränkungen, bemerkte Rötzer, und »in den Foren wird heftig gelöscht«. Wie passend: Zur Verlautbarung, das Archiv auszuknipsen, waren und sind keine Wortmeldungen möglich. Man wüsste zu gerne, was die Leser davon halten. Die Autoren sind jedenfalls in Aufruhr. Thomas Moser, Verfasser von Hunderten Artikeln über den NSU-Komplex, bezichtigt Neuber in einer Stellungnahme, »ganz nebenbei« ein »einst kritisches, meinungsstarkes und auf seine Weise einmaliges Medium« zu zerstören.
Hinweis:
junge Welt weist darauf hin, dass an keiner Stelle behauptet wird, dass bei Telepolis Artikel veröffentlicht werden, die ausschließlich KI-generiert sind. Harald Neuber, Chefredakteur von Telepolis, legt Wert auf die Feststellung, dass bei Telepolis technische Hilfsmittel wie KI ausschließlich im Rahmen enger Vorgaben und im begrenzten Umfang eingesetzt werden. (jW)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (13. Dezember 2024 um 00:23 Uhr)KI ist ja nur eine Technik. Man kann ihr keinen eigenen Willen zuordnen, man kann sie einsetzen. Wie sie eingesetzt wird, bestimmt der Einsetzer. Wobei die Frage ist, ob es sinnvoll oder nicht sinnvoll ist, sie einzusetzen. Wenn viele Beiträge dem Zugriff entzogen werden, hat das politische Gründe, die KI kann nichts dafür. Das Motiv dürfte sein, in den Mainstream zu fallen und abweichende Meinungen auszublenden. Thomas Moser wird wohl richtig liegen.
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