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Aus: Ausgabe vom 16.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Konflikt mit Russland

Kopfnuss für NATO

Militärtechnik: Die russische »Oreschnik«-Rakete markiert eine neue Epoche der Kriegführung
Von Lars Lange
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Gewaltiger Einschlag: Journalist begutachtet Überreste der russischen »Oreschnik«-Rakete (24.11.2024)

Die Nacht vom 21. zum 22. November 2024 markiert wahrscheinlich einen historischen Wendepunkt in der Militärtechnologie. Als russische Streitkräfte die »Oreschnik«-Rakete (deutsch: »Haselnussstrauch«) gegen das riesige Juschmasch-Werk in Dnipro einsetzten, demonstrierten sie mehr als nur eine militärische Operation – sie präsentierten eine revolutionäre Raketentechnologie, die die NATO-Konzepte der Kriegführung fundamental herausfordert.

Juschmasch, ein Erbe der sowjetischen Raumfahrt- und Raketentechnologie, war keine gewöhnliche Fabrik. Seit Jahrzehnten galt das Werk als Herzstück der ukrainischen Rüstungsindustrie, mit einer beeindruckenden Vorgeschichte. Einst in der Lage, jährlich bis zu 100 Interkontinentalraketen herzustellen, repräsentierte Juschmasch das Zentrum der ukrainischen Raketenforschung und -produktion. Das Werk soll so konzipiert sein, dass es selbst bei einem direkten Atomschlag teilweise funktionsfähig bliebe, mit unterirdischen Produktionsanlagen und mehrfach abgesicherten Energiesystemen.

Die »Oreschnik«-Rakete, die dieses Werk angriff, verkörpert eine Synthese moderner Raketentechnologien. Sie kombiniert verfügbare Technologien neu und schafft dadurch neue strategische Optionen. Die Waffe nutzte zum ersten Mal in der Geschichte die Marv-Technologie (Maneuverable Reentry Vehicle), die es ermöglicht, mehrere Sprengköpfe einzeln und präzise ins Ziel zu lenken.

Viele der technischen Spezifikationen sind noch unbekannt. Als gesichert gilt, dass sechs Hauptgefechtsköpfe freigesetzt wurden, von denen jeder weitere sechs Submunitionseinheiten freisetzen konnte. Insgesamt handelt es sich dabei um 36 Gefechtsköpfe, die mit einer einzigen Rakete in potentiell ebenso viele Ziele befördert werden können. Sicher ist auch die Einschlaggeschwindigkeit von etwa Mach 11,4.

Als gesichert kann weiter gelten, dass der Einsatz der »Oreschnik« den ersten Einsatz von rein kinetischen Gefechtsköpfen mit Hyperschallgeschwindigkeit überhaupt markiert. Die verbreitete These, dass die neue Mittelstreckenrakete lediglich Übungsgefechtsköpfe zum Ziel brachte, ist schwer haltbar. Mit Sprengstoff versehene Sprengköpfe sind gegen tiefliegende Ziele wie etwa die unterirdischen Produktionshallen von Juschmasch weniger wirkungsvoll als rein kinetische Gefechtsköpfe. Es kann angenommen werden, dass die Gefechtsköpfe aus Wolfram oder Wolframlegierungen bestanden und dass sie wahrscheinlich nicht mehr als 100 Kilogramm Masse aufwiesen. Der faszinierende Effekt: Bei einer Aufprallgeschwindigkeit von Mach 11,4 würde das Wolframgeschoss etwa ein TNT-Äquivalent von um die 170 Kilogramm aufweisen. Anders als Sprengköpfe würde ein Wolframgefechtskopf unterirdische Schockwellen produzieren, die verbunkerte Strukturen wirksam bekämpfen.

So gibt es denn auch Augenzeugen in der Nähe des Juschmasch-Werks, die den Einschlag als ein erdbebenartiges Ereignis beschrieben. Keine Feuersäulen, keine klassische Explosion – nur ein gewaltiger Aufprall, der Häuser in einem Umkreis von einem Kilometer erschütterte. Zudem waren die Einschlagsmuster bemerkenswert: Videoaufnahmen zeigen Einschläge, die sich in einem nahezu perfekten 90-Grad-Winkel trafen, ein Indiz für eine möglicherweise gezielte Attacke auf unterirdische Infrastrukturen – und ein mögliches Indiz für eine hohe Zielgenauigkeit. Das Abfangen der Rakete ist aufgrund ihrer Manövrierfähigkeit und ihrer Hyperschallgeschwindigkeit praktisch unmöglich. Selbst moderne US-Systeme wie »Aegis« oder THAAD hätten große Schwierigkeiten, ein solches Ziel zu erfassen und zu neutralisieren. Die Submunitionseinheiten verstärken diesen Effekt, indem sie die Verteidigung durch Mehrfachziele noch komplexer gestalten.

Ebenfalls kann mit hoher Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass es sich bei der »Oreschnik« um eine konventionelle Rakete handelt, die allerdings wie viele Raketentypen nuklear bestückt werden kann. Über ihren technischen Ursprung kann derzeit nur spekuliert werden. Denkbar wäre eine Weiterentwicklung auf der Basis bestehender Interkontinentalraketen wie der RS-24 »Jars« oder der R-30 »Bulawa«. Es gibt aber auch Aussagen, dass die »Oreschnik« ursprünglich als Satellitenträgerrakete konzipiert wurde. Roskosmos hatte ein ähnliches Projekt, das als kostengünstige Alternative für den Start kleinerer Satellitensysteme gedacht war – ganz ähnlich wie Starlink.

Die »Oreschnik« symbolisiert eine neue Ära der Kriegführung: Mit ihrer Fähigkeit, 36 Gefechtsköpfe mit einer einzigen Rakete in ein Ziel zu befördern, und dies offenbar noch mit hoher Zielgenauigkeit, kann sie Aufgaben übernehmen, die bisher theoretisch nur von taktischen Nuklearwaffen erfüllt werden konnten. Dadurch repräsentiert die Waffe einen Paradigmenwechsel, der die Grenzen zwischen konventionellen und nuklearen Waffensystemen verwischt. Die Fähigkeit, Entscheidungszentren und Flächenziele mit offensichtlich beispielloser Genauigkeit zu neutralisieren, könnte die bisherige NATO-Doktrin, die auf Erlangung einer absoluten Luftüberlegenheit basiert und dafür funktionsfähige Flugplätze erfordert, obsolet machen.

Hintergrund: INF-Vertrag

Mittelstreckenraketen wie die »Oreschnik« waren durch den Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty (INF-Vertrag) verboten. Der Vertrag war eines der bedeutendsten Rüstungskontrollabkommen des Kalten Krieges, wurde am 8. Dezember 1987 zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion unterzeichnet und trat im Juni 1988 in Kraft. Er eliminierte erstmals eine gesamte Kategorie von Atomwaffen.

Das Abkommen verbot landgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern und sah vor, diese Waffensysteme zu zerstören und zukünftig keine neuen zu entwickeln, zu testen oder zu stationieren. Mittelstreckenraketen können ganz Europa, aber nur kleine Teile der USA erreichen.

Der INF-Vertrag wurde allgemein als Erfolg gewertet, da er bis 1991 zur Zerstörung von über 2.600 Raketen führte. Die Vereinbarung trug nicht nur zur Entspannung zwischen den Supermächten bei, sondern setzte auch ein wichtiges Signal für die internationale Rüstungskontrolle. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien der INF-Vertrag ein Modell für weitere Abrüstungsinitiativen zu sein.

Doch in den folgenden Jahrzehnten geriet der Vertrag zunehmend unter Druck. Beide Seiten beschuldigten einander, gegen die Vereinbarungen zu verstoßen. Die Vereinigten Staaten warfen Russland vor, ein Raketensystem entwickelt zu haben, das gegen die Bestimmungen des Vertrags verstößt. Russland kritisierte wiederum, dass US-Raketenabwehrsysteme in Europa die Vertragsbedingungen umgingen.

Im Februar 2019 kündigte US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag einseitig auf, der dadurch im August desselben Jahres formell außer Kraft trat. Zuvor hatten die USA bereits 2002 den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen aufgekündigt. (lla)

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