Aufmarsch der Marionetten
Von Susann Witt-Stahl, TbilissiHochspannung herrschte am Samstag abend vor dem Parlament an der Rustawelis-Allee. Um Punkt 19 Uhr sollte der große Weihnachtsbaum im Lichterglanz erstrahlen und mit Livemusik eingeweiht werden – für die geschätzt 2.000 vor der Bühne versammelten Demonstranten eine »Provokation«, gegen die sie heftige Proteste angekündigt hatten. Aber in letzter Minute wurde der Festakt abgeblasen. »Anstelle der Kinder traf sich die radikale Opposition vor dem Weihnachtsbaum«, begründete Bürgermeister Kacha Kaladse den Rückzug und prangerte die »Aggressionen« der Kundgebungsteilnehmer an. So blieb der erwartete blutige Zusammenstoß zwischen der liberalen Pro-EU-Bewegung und der Polizei, die mit einem riesigen Aufgebot angerückt war und die Straße in Richtung Freiheitsplatz abgeriegelt hatte, schließlich aus – zumindest vorerst.
Nicht beigetragen zur Deeskalation hatte die noch amtierende Staatspräsidentin Georgiens, Salomé Surabischwili. Sie war am Vormittag auf dem Weg zu ihrer Residenz kurz vor dem Parlament erschienen, während im Gebäude Abgeordnete der Regierungspartei Georgischer Traum sowie Politiker aus der Stadt und Region für Micheil Kawelaschwili – den einzigen Kandidaten – als ihren Nachfolger stimmten. »Niemand wählt hier irgend jemanden. Ich setze meine Arbeit fort«, erklärte sie gegenüber einem Tross von Pressevertretern. Wie die Pro-EU-Oppositionsparteien, die ihre Mandate aus Protest nicht angenommen haben, erkennt Surabischwili das Ergebnis der Parlamentswahl vom 26. Oktober wegen – bisher nicht erwiesener – Manipulationen nicht an. Daher weigert sie sich auch, ihren Platz bis zur Amtseinführung von Kawelaschwili am 29. Dezember zu räumen.
Das Pro-EU-Lager betrachtet den Exfußballnationalspieler ebenso wie Premierminister Irakli Kobachidse als »russische Marionetten«. Seine Kernforderungen lauten Neuwahl und Freilassung aller Mitstreiter, die in den vergangenen Wochen während der zum Teil heftigen Ausschreitungen verhaftet und in einigen Fällen verprügelt worden waren. Den ideologischen Kitt aber bildet der Hass auf den Kommunismus und den bis heute als übermächtige Sowjetunion wahrgenommenen Nachbarn. »Russland ist unser gemeinsamer Feind«, war auf einem Plakat zu lesen, das eine junge Frau hochhielt. Folglich gibt es für diese Bewegung auch keine soziale Frage anzugehen, sondern nur in Richtung Wertewesten zu stürmen. »Wir erleben glorreiche Tage, die junge Generation bringt Georgien die wahre Freiheit«, schwärmte Giorgi Margwelaschwili, der von 2013 bis 2018 Präsident war und sich wie diverse andere Oppositionspolitiker unter die Demonstranten mischte. Darunter auch Elene Khoschtaria von der libertären Droa-Partei, die gewalttätige Protestler mit Feuerwerkskörpern versorgt hatte (mittlerweile ist der Verkauf verboten, Restbestände wurden beschlagnahmt) – deren Einsatz deutliche Brandspuren am Parlamentsgebäude hinterlassen hat.
Während sich viele Demonstranten bei Minusgraden mit Fußballspielen warmhielten – eine Gruppe auch durch das Abfackeln eines Trikots mit der ehemaligen Rückennummer von Kawelaschwili –, verlangten wenige Anhänger von Micheil Saakaschwili dessen Freilassung und Rückkehr als Präsident. Der Wortführer der »Rosenrevolution« von 2003 sitzt wegen diverser Straftaten im Gefängnis. Es fanden sich auch Militante, die nach dem Vorbild des »Euromaidan« einen Umsturz für die einzige wahre Lösung halten. Sie hoffen auf die militärische Intervention der 3.000 Mann starken Georgischen Legion, die gegenwärtig in der Ukraine kämpft. »Sie hat gesagt, dass sie kommen wird, wenn wir sie brauchen«, verkündete ein älterer Mann mit wissendem Lächeln. »Sie wird ihr Versprechen halten.«
Am Abend tauchte Salomé Surabischwili erneut vor dem Parlament auf, diesmal mit Durchhalteparolen: »Ich bin bei euch, ihr seid in meinem Herzen«, versicherte sie unter dem Beifall von Demonstranten, deren Zahlen bei den Kundgebungen und anderen Aktionen derzeit rückläufig sind. Für die kommenden Tage sind weitere Proteste angekündigt.
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