Äthiopiens Drang zum Meer
Von Knut MellenthinDie Türkei hat ihre starke politische und wirtschaftliche Rolle in Nordostafrika demonstriert: Am Mittwoch vergangener Woche schlossen Somalia und Äthiopien unter Vermittlung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen Kompromiss in einem monatelangen Streit. Dargestellt sind die Verhandlungsergebnisse in der »Deklaration von Ankara«, die aber unterschiedlich auslegbar ist. Ob der Interessenkonflikt zwischen den zwei wichtigsten Staaten am Horn von Afrika damit dauerhaft beigelegt ist, kann nur die Zukunft zeigen.
Unmittelbarer Auslöser des Streits war ein Vertrag, den die Regierung in Addis Abeba am 1. Januar mit der früheren britischen Kolonie Somaliland vereinbart hatte. Nach der Unabhängigkeit hatte sich Britisch-Somaliland 1960 mit der erheblich größeren italienischen Exkolonie zum neuen Staat Somalia zusammengeschlossen. Als dieser 1991 nach dem Sturz des langjährigen, autoritär regierenden Präsidenten Siad Barre in einem bis heute andauernden Bürgerkrieg versank, spaltete sich Somaliland ab. Bis heute ist seine Unabhängigkeit von keinem Staat der Welt anerkannt. Andererseits ist Somaliland im Gegensatz zu Somalia politisch stabil, hält regelmäßig Wahlen nach anerkannten Standards ab und hat wirtschaftlich und geostrategisch einiges zu bieten. Deshalb pflegen Unternehmen und Regierungen mehrerer Länder Kontakte mit Somaliland, ohne es offiziell anzuerkennen.
Der Wortlaut des am 1. Januar dieses Jahres zwischen Addis Abeba und Hargeysa geschlossenen Abkommens ist unveröffentlicht und nicht zuverlässig bekannt. Allgemein wird angenommen, dass ein zentraler Punkt die Verpachtung eines Küstenstreifens von 20 Kilometern Länge an Äthiopien für eine Laufzeit von 50 Jahren vorsieht. Vielfach wurde berichtet, dass Addis Abeba als Gegenleistung die staatliche Anerkennung Somalilands versprochen habe, aber das ist nicht gesichert.
Seit Eritrea mit dem Hafen Assab 1993 nach einem dreißigjährigen bewaffneten Befreiungskampf seine Unabhängigkeit von Äthiopien durchsetzte, hat dieses seinen Zugang zum Roten Meer verloren. Mit mehr als 130 Millionen Einwohnern ist Äthiopien das bevölkerungsreichste Binnenland der Welt. Sein Seehandel wird zwar über Dschibuti abgewickelt, aber Premierminister Abiy Ahmed vertritt offensiv die Position, dass der autonome Zugang zum Meer für Äthiopien »eine existentielle Frage« sei.
Die somalische Zentralregierung, die Somaliland als Teil ihres Territoriums ansieht, verurteilte das Abkommen zwischen Addis Abeba und Hargeysa sofort als »ungesetzlich« und »Aggressionsakt«. Die Afrikanische Union als Dachverband aller Staaten des Kontinents unterstützt die »territoriale Integrität« Somalias. Die Türkei, die in umfangreiche Entwicklungsprojekte Somalias investiert hat und den ersten Platz bei der Ausbildung somalischer Streitkräfte einnimmt, bot sich als Vermittlerin an. Am 1. Juli trafen sich erstmals die Außenminister Somalias und Äthiopiens in Ankara, ohne sich zu einigen. Die am Mittwoch unterzeichnete Ankara-Erklärung enthält die »gegenseitige Achtung vor der Souveränität, Einheit, Unabhängigkeit und territorialen Integrität« des anderen Landes. Andererseits werden auch »die möglichen vielfältigen Vorteile« anerkannt, die sich aus einem »gesicherten Zugang Äthiopiens zum und vom Meer« ergeben könnten, der freilich »unter der souveränen Autorität der Bundesrepublik Somalia« stehen müsse.
Was damit konkret und ganz genau gemeint oder angedacht ist, bleibt offen. Die Ankara-Erklärung sieht vor, nicht später als Ende Februar 2025 mit Hilfe der Türkei »technische Verhandlungen« zwischen Mogadischu und Addis Abeba zu beginnen, die in vier Monaten abgeschlossen und unterschrieben werden sollen.
Die Ankara-Erklärung wurde mit Danksagungen an die »wichtige Rolle der Türkei« unter anderem vom Außenministerium der USA, von der EU und vom nordostafrikanischen Staatenbündnis IGAD begrüßt. Diesem gehören Äthiopien, Somalia, Eritrea, Dschibuti, Sudan, Südsudan, Kenia und Uganda an.
Siehe auch
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 26.09.2024
Kairo provoziert
- 03.09.2024
Wenn zwei sich streiten
- 08.07.2024
Dem Süden zugewandt
Mehr aus: Ausland
-
Sternegeneral in Haft
vom 16.12.2024 -
Werben um Dschihadisten
vom 16.12.2024 -
Aufmarsch der Marionetten
vom 16.12.2024 -
Protest gegen Waffenhilfe
vom 16.12.2024 -
Verräter begehren auf
vom 16.12.2024