Die Zickzacks des Doktor Quesnay
Von Klaus MüllerAm 16. Dezember 1774, vor 250 Jahren, starb François Quesnay in Versailles. Geboren 1694 in der Nähe von Paris, als achtes von dreizehn Kindern des einfachen Bauern Nicolas Quesnay, ergreift der vielseitig gebildete Quesnay den Arztberuf. Er arbeitet als Geburtshelfer, lässt zur Ader, zieht Zähne und führt für damalige Verhältnisse sehr komplizierte Operationen durch.¹ 1740 wird er Sekretär und Dozent an der 1731 in Paris gegründeten Académie royale de Chirurgie, der Chirurgischen Akademie. Die Gicht, die ihn schon mit 30 Jahren befällt, hindert ihn daran zu operieren. Er muss in die innere Medizin wechseln. Tüchtig, ehrgeizig und hochbegabt, verfügt der Arzt Quesnay bald über eine adlige Kundschaft. Dazu gehören die mächtigste Frau des Landes, die Marquise de Pompadour, des Königs Ludwig XV. Favoritin und Mätresse, und später auch der König selbst. 25 Jahre lang wohnt Quesnay in einem Zwischengeschoss des Schlosses Versailles und ist bald ein wohlhabender Mann. Allein das Gut, das er nach der Erhebung in den Adelsstand erwirbt – den Adelstitel erhält er 1752, weil er den Kronprinzen von den Windpocken heilt – und in dem sich die Familie seines Sohnes einrichtet, kostet ihn 118.000 Livres. Zeitgenossen beschreiben Quesnay als einen verschmitzten Weisen, der gern in Gleichnissen mit einem tiefen und nicht immer gleich verständlichen Sinn gesprochen habe. »Klug wie der Teufel«, nennt ihn der Bruder des Marquis de Mirabeau. Ein 1767 entstandenes Porträt zeigt ihn mit unschönem Gesicht, ironisch lächelnd, kluge Augen.
Quesnay steht kurz vor Vollendung seines 60. Lebensjahres. Plötzlich geschieht etwas »Erstaunliches«, schreibt Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski: »Er hat den Höhepunkt seiner ärztlichen Laufbahn erreicht, bedeutende medizinische Werke geschrieben, eine auch äußerlich glänzende Position errungen, gilt als einer der hervorragendsten Ärzte seiner Zeit. Da (…) beginnt er sich für politökonomische Fragen zu interessieren und wird in wenigen Jahren zum bedeutendsten Politökonomen seiner Zeit, zu einem der größten in der ganzen Geschichte dieser Wissenschaft.«²
Natur einzige Quelle des Reichtums
Quesnays Aufsatz »Die Pächter« erscheint 1756 in der berühmten Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert. Dort beklagt der Autor den ungeheuren Verfall der französischen Landwirtschaft, eine Folge des »Colbertismus«, jenes stark reglementierenden Wirtschaftssystems, benannt nach dem französischen Finanzminister Jean-Baptiste Colbert. Unter ihm begünstigte der Staat die Ausfuhr, förderte die Manufakturen, belegte die Pächter mit hohen Steuern und ruinierte die Landwirtschaft. Und dabei sei doch die Landwirtschaft die Grundlage der Wirtschaft schlechthin – so Quesnay und seine Anhänger. »Der Ackerbau sei die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens. Unter allen Mitteln, Vermögen zu erwerben, gebe es keines, das für den Menschen besser, lohnender, angenehmer und geziemender, ja des freien Mannes würdiger ist als der Ackerbau. Es gebe auch keine Lebensart, die glücklicher ist, nicht bloß wegen der Nützlichkeit dieser Betätigung, welche die Subsistenzmittel für die ganze Gesellschaft hervorbringt, sondern auch wegen der inneren Befriedigung, die sie verschaffe, denn die Kultur des Bodens erzeuge alles, was für das Leben der Menschen und für den Dienst an Gott erforderlich ist.«³ Handel und industrielles Gewerbe seien von ihr abgeleitet und hängen von ihr ab. Die Landwirtschaft sei kraft der Natur die Quelle allen Reichtums des Staates und seiner Bürger. Das ist der Grundgedanke des Physiokratismus, ein Begriff, den Quesnay oder sein engster Schüler Dupont de Nemours⁴ prägen. Er bedeutet Herrschaft der Natur. Quesnay ist Haupt und Wortführer der Physiokraten. Ihr Motto wird zum geflügelten Wort: Arme Bauern – armes Königreich. Reiche Bauern – reiches Königreich. Doch Quesnay irrt, wenn er sagt: »Bei der Produktion der gewerblich gefertigten Dinge kommt es zu keiner Mehrung der Reichtümer; denn der Wert dieser Arbeitszeugnisse steigt nur um so viel, wie die Subsistenzmittel kosten, welche die Arbeitsleute verbrauchen. Demzufolge werden alle Ausgaben für gewerblich gefertigte Dinge nur den Revenuen aus dem Grundeigentum entnommen; denn zu Arbeiten, die keinerlei Revenuen produzieren, kann es nur mittels der Reichtümer derer kommen, die sie bezahlen.«⁵ Die gewerbliche Produktion in den Manufakturen sei unfruchtbar. Sie erzeuge keinen Wert und Mehrwert. Sie forme die Dinge nur stofflich um, die sie der Natur und der Agrikultur entnimmt. Folgerichtig dürfe man nur die Grundeigentümer besteuern, nicht die Löhne der Menschen oder die Lebensmittel, nicht die Pächter, Händler und Gewerbetreibenden. Sonst würden sich die Steuerhebungskosten vervielfachen, Handel und Gewerbe würden geschädigt und jährlich ein Teil der Reichtümer einer Nation zerstört werden. Die Steuer solle »unmittelbar auf dem Nettoprodukt aus Grund und Boden« (ruhen), sie solle »nicht den Vorschüssen der Pächter von Grund und Boden entnommen (werden), denn die Vorschüsse für die Landwirtschaft eines Königreiches sind wie Immobilien zu betrachten, die es wie einen Schatz zu hüten gilt, damit die Steuer und Revenuen der Nation produziert werden können. Andernfalls artet die Steuer in Plünderung aus und verursacht einen Verfall, der einen Staat sehr rasch zugrunde richtet.«⁶ Mitte des 18. Jahrhunderts war die Landwirtschaft die Hauptquelle des französischen Nationaleinkommens. Die Vorzugsstellung, die sie in der Physiokratie einnimmt – allein sie mehre den Reichtum – komme sie, ginge es nach Quesnay und seinen Anhängern, teuer zu stehen. Nur die Eigentümer von Grund und Boden, der Adel und die Kirche, die in Frankreich keine Steuern zahlen, sollen besteuert werden. Die Physiokraten sind fest überzeugt, dass die »einzige Steuer« dem Wohle der feudalen Gesellschaft dient. Objektiv jedoch entspricht ihr Vorschlag den Interessen der zur Macht drängenden bürgerlichen Klasse. Dem Adel ist das klar. Die Berater des Königs und der Grundeigentümer sind alarmiert. Eines Tages vermisst Quesnay seinen engen Vertrauten, den Grafen Mirabeau, beim kulturell- geselligen Zusammensein in seiner niedrigen, dunklen Wohnung im Versailler Schloss, wo sich regelmäßig Gelehrte und Schriftsteller treffen. Der Mitbegründer der Lehre von der einzigen Steuer war inhaftiert worden. Wie konnten sich die klugen Physiokraten so täuschen? »Die Etikette eines Systems«, sagt Marx, »unterscheidet sich von der anderer Artikel u. a. dadurch, dass sie nicht nur den Käufer prellt, sondern auch oft den Verkäufer. Quesnay selbst und seine nächsten Schüler glauben an ihr feudales Aushängeschild.« Voltaire amüsiert sich über sie. In seiner Erzählung »Der Mann mit den vierzig Talern« schreibt er: »Die Engländer, die so selten lachen, haben gelächelt, als sie erfuhren, dass bei uns geistvolle Leute eine solche Maßnahme vorgeschlagen haben.«
Im Jahr 1758, nur fünf Jahre nach Beginn seiner ökonomischen Studien, im Alter von 64 Jahren, veröffentlicht Quesnay das »Tableau économique«, die Krönung seiner Forschung, eine bildlich-arithmetische Darstellung der volkswirtschaftlichen Reproduktion. Ihr Kern ist zwar einfach, die graphische Präsentation aber eher kompliziert. Sie bleibt hundert Jahre unverstanden. Der englische Arzt William Harvey beschreibt im Jahre 1628 erstmals den Blutkreislauf. Die Entdeckung gilt als eine der größten Revolutionen der Medizingeschichte. Man hat vermutet, dass der Arzt Quesnay davon angeregt worden sein könnte, in der Wirtschaft etwas Ähnliches zu suchen, und dabei auf den Geld- und Kapitalkreislauf gestoßen ist. Ob es so war, wer weiß? Marguerite Kuczynski, die in der DDR verdienstvoll die Quesnay-Ausgabe besorgt hat, schreibt, in Quesnays Schriften selbst sei ein solcher Bezug nicht zu finden. Tatsache ist aber, dass Quesnay zeigt, wie das Geld und die Güter zwischen den Bürgern und Klassen der Gesellschaft zirkulieren und das Ganze zusammenhalten, ähnlich wie das Blut die Organe, Gewebe und Zellen des menschlichen Körpers. Sagt man nicht, das Geld sei das Blut der Wirtschaft? Der österreichische Ökonom Karl Pribram (1877–1973) meint dagegen, dass die Übertragung der Produkte und Werte im Tableau économique den Bewegungen der Körper in der Kosmologie von Nicolas Malebranche (1638–1715) ähnelt, des französischen Philosophen, der glaubt, dass die materiellen Körper des Universums von einer göttlichen Kraft außerhalb des Alls angestoßen werden. »Offenbar war es ein analoger Zugang zur ökonomischen Analyse, der Quesnay zu der Erklärung veranlasste, dass die Werte, die den Reichtum darstellen und Gegenstand des Distributionsprozesses sind, nicht von menschlicher Tätigkeit hervorgebracht wurden, sondern eine freie Gabe der Natur seien, die von außen in die Ökonomie eingehe und im Distributionsprozess während einer Produktionsperiode aufgezehrt werde.«⁷
Ökonomie als Klassenbeziehung
Quesnay gliedert die Nation in drei Klassen von Bürgern: Die in der Landwirtschaft Tätigen bilden die produktive Klasse. Sie sei die einzige, die ein Mehrprodukt erzeuge. Die sterile Klasse umfasse aller außerhalb der Landwirtschaft Beschäftigten, die Handwerker, Manufakturisten und Händler. Sie schafften soviel Produkt, wie sie verbrauchten, mehrten das Gesamtprodukt der Nation also nicht, formten nur um, was allein die Landwirtschaft erzeuge. Schließlich die Grundeigentümer, etwa 500.000 privilegierte Personen im damaligen Frankreich, einschließlich König und Kirche. Sie arbeiten nicht in der Produktion, beziehen ein hohes Einkommen durch Pacht und Abgaben, das sie durch Konsum von landwirtschaftlichen und gewerblichen Produkten wieder in den Kreislauf zurückführen. Die Physiokraten um Quesnay zweifeln nicht im geringsten an der Existenzberechtigung der dritten Klasse. Ihre Angehörigen hätten die Sicherheit des Landes zu gewährleisten – geistig, staatlich, militärisch.
Im Tableau économique stellt Quesnay anhand von Verbindungslinien dar, wie das in der Landwirtschaft entstandene Nettoprodukt vermittels des zirkulierenden Geldes zwischen den drei Klassen der Gesellschaft verteilt wird. Zwar sind die Klasseneinteilung und ihre inhaltliche Bestimmung falsch. Die Klassen werden zudem unhistorisch betrachtet, als natürlich-ewige Erscheinungen statt als historisch vorübergehende. Doch Quesnay begreift die ökonomischen Beziehungen als Klassenbeziehungen. Das ist richtig und bedeutsam. Auf dieser Basis gelangt er zu einer Erkenntnis, die gänzlich neu ist: Geld und Güter vollziehen einen Kreislauf in der Wirtschaft. Quesnay ist der erste in der Geschichte des ökonomischen Denkens, der eine Reproduktions- und Kreislauftheorie entwickelte. Marguerite Kuczynski notiert: »Die ökonomische Wissenschaft fand in Quesnay einen Begründer von solch überragenden Fähigkeiten, dass er auch heute noch zu jenen großen Denkern gehört und gezählt wird, die für die Wissenschaft nicht nur neue, bedeutende Gebiete erschlossen haben, sondern bis in unsere Tage hinein für die weitere Entwicklung der Forschung als Wegbereiter weiter gewirkt haben.«⁸ Sein Modell beruht wie jegliches auf Vereinfachungen: Alle Käufe und Verkäufe (Tauschakte) werden zu einem Akt zusammengefasst, unter einer Betrachtungsperiode von einem Jahr. Die Preise sind starr. Tauschhandlungen innerhalb einer Klasse werden nicht beachtet, die Produktion wächst nicht, es findet einfache Reproduktion statt – Produkte auf gleichbleibendem Niveau. Quesnay unterstellt ein entwickeltes kapitalistisches Pachtsystem. Vorherrschend war zu seiner Zeit jedoch die Halbpacht (Métayage), in der der Grundeigentümer neben dem Boden auch Arbeitsgeräte und Saatgut stellt. Der Pächter bringt allein seine Arbeitskraft ein.
Besonders aufregend ist es nicht, was im Tableau économique abgebildet wird: Die letztjährige Ernte bildet den Ausgangspunkt. Die Pächter zahlen die jährliche Pacht. Die Grundeigentümer eignen sich mit ihr Teile des Nettoprodukts an. Sie kaufen mit der Hälfte der Pachteinnahmen der produktiven Klasse Lebensmittel ab (1. Tauschakt), mit der anderen Hälfte gewerbliche Erzeugnisse von der sterilen Klasse (2. Tauschakt). So bringen sie das Geld in den Wirtschaftskreislauf, indem sie konsumieren. Das sei ihre soziale Funktion. Die Manufakturisten erwerben aus ihren Einnahmen Lebensmittel (3. Tauschakt), die Landwirte kaufen mit dem ihnen zufließendem Geld Produkte aus den Manufakturen (4. Tauschakt). Die Eigentümer der Manufakturen schließlich beziehen mit ihrem zweiten Einkommen – das sie aus dem Verkauf ihrer Produkte an die in der Landwirtschaft Tätigen erhalten – Rohstoffe von diesen, um die Produktion fortsetzen zu können (5. Tauschakt). Die fünf Tauschakte zeigen, wie das Geld zwischen Grundeigentümern, der produktiven und sterilen Klasse zirkuliert und so die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Produktion immer wieder von neuem stattfinden kann. Am Ende ist der produktiven Klasse durch den Verkauf von Lebensmitteln und Rohstoffen die ursprünglich an die Grundeigentümer gezahlte Pacht in voller Höhe zurückgeflossen – und kann erneut gezahlt werden.
Das Modell ist unvollkommen und fehlerhaft. Ihm liegt die Auffassung zugrunde, dass allein die landwirtschaftliche Arbeit produktiv sei, der Mehrwert – das »Nettoprodukt«, in den Worten der Physiokraten – nur in Form der landwirtschaftlichen Grundrente existiere und in falscher Romantik als ein Geschenk der Natur verstanden wird. Die Bedeutung des Geldes wird auf seine Tauschmittelfunktion reduziert. Doch unverlierbares Verdienst für die Geschichte des ökonomischen Denkens ist, dass zum ersten Mal das Wirtschaftsganze in den Fokus rückt. Quesnay zeigt, wie der Geld- und der Güterstrom einer Volkswirtschaft untereinander verbunden sind. Alle Bereiche und alle Phasen der gesellschaftlichen Reproduktion werden in ihrem Zusammenhang erschlossen: die Produktion von Lebensmitteln, von Rohstoffen und von Manufakturwaren, die Distribution, die das Geschaffene unter die Klassen und ihre Bürger verteilt, die Zirkulation, der Tausch, der die Form darstellt, in der das Erzeugte verteilt wird, die individuelle und produktive Konsumtion der Einkommen, die zeigt, wer in welcher Weise die Teile des Gesamtprodukts verwendet. Die gesellschaftliche Gesamtzirkulation wird lückenlos erfasst, und dies in lächerlichen, aussagekräftigen fünf Strichen, den berühmt gewordenen Zickzacks des Dr. Quesnay: der Ursprung der Einkommen, der Tausch zwischen Kapital und Einkommen, zwischen den Produzenten und den Konsumenten, zwischen der Rohproduktion und der Veredelungsproduktion in den Manufakturen. Karl Marx, der die Physiokraten für ihre falschen Ideen kritisiert, bemerkt begeistert, dies alles in einem Tableau, »das (…) nur aus 5 Linien besteht, die 6 Ausgangs- oder Rückkehrpunkte verbinden – im 2. Drittel des 18ten Jahrhunderts, der Kindheitsperiode der politischen Ökonomie war ein höchst genialer Einfall, unstreitig der genialste, dessen sich die politische Ökonomie schuldig gemacht hat.«⁹ Unverlierbares Verdienst ist auch, dass die Physiokraten »die Untersuchung über den Ursprung des Mehrwerts aus der Sphäre der Zirkulation in die Sphäre der unmittelbaren Produktion selbst« (…) legen »und damit die Grundlage zur Analyse der kapitalistischen Produktion« schaffen.¹⁰
Die Physiokraten kennen keine Selbstzweifel. Graf Mirabeau sagt: »Seit dem Anfang der Welt sind drei Entdeckungen gemacht worden, die den politischen Gesellschaften ihre Hauptstärke gegeben haben. Die erste ist die Erfindung der Schreibkunst, die zweite die Erfindung des Geldes. Die dritte, das Resultat der beiden anderen, das sie aber ergänzt, indem es das Objekt der beiden anderen zur Vollkommenheit bringt, ist das Tableau économique – die grafische Darstellung der volkswirtschaftlichen Verhältnisse, die unter allen hervorragende Erfindung, die den Ruhm des Jahrhunderts bildet und deren Früchte die Nachwelt pflücken wird.« Theatralisches Eigenlob? Eine überzogene Aussage, der Inhalt sachlich falsch? Vielleicht. Doch in gewisser Weise sollte Mirabeau Recht behalten. François Quesnays Tableau économique, von Zeitgenossen auch die »Logarithmentafel der Nationalökonomie« genannt, ist als das erste makroökonomische Kreislaufmodell in der Geschichte der politischen Ökonomie bis in die Gegenwart wirksam geblieben. Es steht für den völlig neuen Weg, das Gesamtprodukt einer Nation in seinem Umfang zu erfassen und in seiner Bewegung zu zeigen. Es demonstriert die Regeln und Voraussetzungen seines Entstehens, seiner Verteilung und seiner Verwendung und schließlich sein Wiedererstehen – und das alles in Form von fünf Zickzacks. Die Darstellung hat Marx zu seinen Reproduktionsschemata angeregt. Lenin entwickelt das weiter, indem er die Beziehungen zwischen den volkswirtschaftlichen Abteilungen, die Konsumgüter und Investitionsgüter produzieren, nicht wie Marx bei einer konstanten, sondern bei einer wachsenden organischen Zusammensetzung untersucht. Diese Schemata können angesehen werden als die erste Grundlage und als Vorläufer der Verflechtungs- und Optimierungsmodelle, mit denen versucht wird, eine proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft zu begründen. Sie haben auch bürgerliche Ökonomen beeinflusst wie Joseph Schumpeter (1883–1950) oder John M. Keynes (1883–1946) und liegt jenen großartigen Input-Output-Analysen zugrunde, für die der russisch-amerikanische Ökonom Wassily Leontief (1905–1999) im Jahr 1973 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhält.
Quesnay wendet sich kurz vor seinem Tode der Mathematik zu, nachdem er den praktischen Triumph seiner ökonomischen Lehre noch erleben kann: König Ludwig XVI. beruft seinen Schüler Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781) im Juli 1774 zum Finanzminister des französischen Staates.
Und noch etwas: François Quesnay und seine Schule der Physiokraten sind leidenschaftliche Anhänger des freien Handels. Sie lehnen alle Beschränkungen und Einengungen der Produktion ab. Sie glauben fest daran, dass dem Gemeinwohl am besten gedient sei, wenn jeder in freier Wahl seine persönlichen Interessen konsequent verfolgt. Indem jeder Produzent und Händler alles unternimmt, einen gegebenen Zweck mit dem geringsten Aufwand zu erreichen, trage er dazu bei, dass sich Überschüsse mit niedrigen Preisen und Unterproduktionen mit hohen Preisen ausgleichen, volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheiten sich aufhöben. Der egoistische Eigennutz des einzelnen stimme überein mit den Interessen aller. Das sei das Prinzip der Freiheit. Man müsse sie gewähren, dann laufe die Welt von selbst. Das ist die große Phrase: »Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même«! Lasst den Dingen ihren Lauf, die Welt dreht sich von selbst, das heißt auch ohne Einmischung des Staates. Quesnay hat den Satz nicht formuliert, aber er stimmt ihm zu. »Besser regieren, heißt weniger regieren« sagen er und die Physiokraten. Sie fordern, alles zu beseitigen, was den freien Handel und die freie Produktion behindert – die Zölle, Steuern, Privilegien, Gebühren, Monopole usw. DDR-Theorienhistoriker Günter Fabiunke schreibt: »Indem die Physiokraten unter Berufung auf Vernunft und Natur die Beseitigung aller Hemmnisse forderten, die der freien Entfaltung des Egoismus im Wege standen, indem sie für die ungehinderte Entfaltung der ›Naturgesetze‹ in der Wirtschaft eintraten, proklamierten sie die objektiv auf die Überwindung des Feudalismus gerichtete Durchsetzung der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus.«¹¹ Obwohl sie subjektiv das Gegenteil wollten. Sie wollten die feudale Gesellschaft erhalten und sie stärken.
Anmerkungen
1 A. W. Anikin: Ökonomen aus drei Jahrhunderten. Berlin 1974, S. 157
2 Jürgen Kuczynski: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. Bd. 34. Berlin 1968, S. 30
3 Zit. n. Fritz Behrens: Grundriß der Geschichte der politischen Ökonomie. Bd. 1. Berlin 1981, S. 182
4 Dupont emigriert nach der Revolution in die USA, wo die Familie ein Unternehmen gründet, aus dem später einer der weltweit größten Chemiekonzerne, die E. I. Dupont de Nemours & Co., entstehen wird.
5 François Quesnay: Ökonomische Schriften. Bd. I-1. Berlin 1971, S. 125
6 Ebd., S. 414
7 Karl Pribram: Geschichte des ökonomischen Denkens. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1998, S. 207
8 Ebd., S. XI
9 MEW 26.1, 319
10 MEW 26.1, 14
11 Günter Fabiunke: Geschichte der bürgerlichen politischen Ökonomie. Berlin 1975, S. 75
Klaus Müller schrieb an dieser Stelle zuletzt am 9.12.2024 über zeitgenössische Marx-Interpretationen
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